Eine namenlose Sehnsucht

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Tausende Stimmen reden täglich auf uns ein. In der Flut von Informationen ist es schwierig geworden, Zeichen und Signale richtig zu deuten.

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Tausende Stimmen reden täglich auf uns ein. In der Flut von Informationen ist es schwierig geworden, Zeichen und Signale richtig zu deuten.

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Der Gedanke, Charakter und Persönlichkeit zu entschlüsseln, um Identität und Lebensziele definieren zu können, ist natürlich nicht neu. Es war von jeher das Ziel der Psychologie herauszufinden, wie und warum ein Mensch zu dem wird, was er ist. Allerdings hat sie dabei vorwiegend mit Ursache-Wirkungs-Modellen gearbeitet, was den Blick auf das, was das Wesen des Menschen ausmacht, sehr verengte. Weil fast alle psychologischen Schulen das früh Erlebte (und vor allem: das früh Erlittene) für unsere weitere Entwicklung verantwortlich machten, stehen Komplexe, Symptome und Traumata im Vordergrund der Betrachtung. Und so hat die Psychologie maßgeblich dazu beigetragen, daß sich immer mehr Menschen als Opfer begreifen. Kaum noch ein Lebensbereich, der nicht zur Problemzone erklärt, kaum eine Verhaltensweise, die nicht klinifiziert wurde. Die Zahl der Störungen und Symptome ist explodiert. Das Leben ist heute vor allem eine Fallgeschichte, deren trauriger Held ein tendenziell traumatisiertes oder milieugeschädigtes Wesen ist. Es muß sein "inneres Kind" erlösen, seine Komplexe aufarbeiten und lebenslang an den erlittenen Erziehungsfehlern und anderen Verletzungen laborieren.

Hillman stellt nun die traditionelle psychologische Betrachtungsweise von Entwicklung und Wachstum auf den Kopf: Die Aufgabe des Menschen sei nicht "aufzuwachsen", sondern "herunterzuwachsen". Er muß herausfinden, wer er bereits ist, nicht was er wird. (Picasso sagte: "Ich entwickle mich nicht - ich bin!") Nur wer sein Fundament, seinen Grund gefunden hat, kann seine Persönlichkeit entfalten. Die eigentliche Menschwerdung gelingt erst dann, wenn wir in Übereinstimmung mit unserer Bestimmung leben und dem Ruf unseres Schicksals - der Berufung - folgen.

Dieses Schicksal haben wir uns als eine Idee vorzustellen, als Lebensprogramm in nuce, das uns von Anfang an mitgegeben ist. Wir kommen mit einem fertigen Plan auf die Welt. Der Plan determiniert jedoch nicht unser Leben - er ist vor allem eine Möglichkeit, die Möglichkeit. Damit wir den Plan einhalten können, ist uns ein Dämon zugesellt. Mit dem Dämon greift Hillman eine Denkfigur Platos auf: Der daimon ist jener Seelengefährte, der in Platos Schöpfungsmythos beschrieben wird und in der römisch-antiken Philosophie als genius den Menschen beseelt. Jeder Mensch betritt die Erde mit einem unsichtbaren Doppelgänger, der ihn zeitlebens begleitet und zu seiner Bestimmung und Entfaltung leiten will. Der Dämon hilft uns und beschützt uns vor zahllosen Gefahren - er ist der "gute Geist", der uns einen schlimmen Sturz heil überleben läßt, er ist der "Zufall", der uns etwas längst Vergessenes wiederfinden läßt, er ist die "Eingebung", die uns vor einem großen Fehler bewahrt. Was Hillman Dämon nennt, ist ein Begriff für ein ganzes Bündel psychischer Fähigkeiten, die von anderen Psychologen als "sechster Sinn" oder Intuition, als Instinkt oder unterschwellige Wahrnehmung beschrieben wurden: mentale Kapazitäten, die oft rätselhaft und unerklärlich erscheinen, weil wir sie bisher wenig erforscht haben und nur selten nutzen.

Der Dämon erhält heute nur noch selten eine Chance, auf uns einzuwirken. Die meisten Menschen ignorieren seinen Ruf oder haben verlernt, seine Botschaften zu entziffern. "Berufung" erscheint den meisten als antiquiertes Konzept, das man aus der Bibel kennt oder höchstens außergewöhnlichen Künstlern zubilligt. Dennoch ist die Präsenz des Dämons erkennbar, selbst für Skeptiker. Gerade wenn wir gegen unsere Berufung leben, spüren wir immer wieder, wie "Etwas" versucht, uns in eine bestimmte Richtung zu drängen. Eine innere Stimme sagt uns: Das mußt du tun! Das ist deine Berufung! Das ist deine Rolle im Leben!

Selbst wenn wir bereit sind, auf die Stimme des Dämons zu hören - wie teilt sie sich mit? Wie können wir die Signale unserer Seele herausfiltern aus dem Rauschen von Hunderten und Tausenden Stimmen, die ständig auf uns einreden? In der Flut von Informationen und Zeichen, die täglich über uns hinwegrollt, ist es schwierig geworden, die "Vorladungen des Schicksals" zu entziffern. Schwierig, aber nicht unmöglich: * Die ursprüngliche Kraft des angeborenen Charakters zeigt sich beispielsweise, wenn ein Kind scheinbar aus dem Nichts heraus etwas kann, etwas tut, einen ausgeprägten Willen zeigt, ohne daß wir die üblichen psychologischen Gründe dafür finden können. In vielen Fällen halten wir das erste Aufscheinen des Charakters für eine kindliche Marotte oder eine Verhaltensauffälligkeit. Trotz, Obsessionen, Widerspenstigkeit, Schüchternheit, Exzentrik, generell alle Formen von Unangepaßtheit sind aber keineswegs als Störungen oder Symptome anzusehen, sondern Ausdruck des Dämons. Der einzigartige Charakter eines Menschen versucht sich Bahn zu brechen, und unvermittelt wird eine Berufung sichtbar: Yehudi Menuhin wünschte sich als Vierjähriger eine Geige. Als man ihm eine Kindergeige aus Blech schenkte, zertrümmerte er sie wütend und ruhte nicht eher, bis er eine richtige bekam.

* Ein weiteres Indiz für die Gegenwart des unerhörten Dämons ist die "archetypische Einsamkeit": das plötzliche und unerklärliche Gefühl des Ausgeschlossen- oder Exiliertseins, das uns selbst in geselligen und glücklichen Momenten überfällt. Wir sind scheinbar ohne Grund melancholisch und spüren eine namenlose Sehnsucht oder innere Leere. Schon Kinder empfinden mitunter diese existentielle Einsamkeit. Sie fühlen sich für Momente fremd und isoliert, selbst wenn sie geborgen und eingebunden in Familie und Freundschaft aufwachsen.

Auch im späteren Leben tauchen Phasen dieser seltsamen Entpersonalisierung auf - in Augenblicken, in denen wir für eine Zeitlang aus der Welt herausgefallen zu sein scheinen. Meistens beunruhigt uns dieser Zustand. Anstatt ihn zu entschlüsseln, versuchen wir, ihm zu entkommen. Wir erklären ihn, wenn er uns hartnäckig zu schaffen macht, mit soziologischen oder psychologischen Theorien wie Entfremdung, falschem Lebensstil, unverarbeiteten Kindheitstraumata et cetera.

Einsamkeit ist aus der Sicht der Schicksalspsychologie ein Symptom dafür, daß die Seele noch keine Wurzeln geschlagen hat und wir unserer Berufung nicht folgen.

Um solche Orakel und Omen des Alltags entschlüsseln zu können, sind Selbstbeobachtung und Reflexion nötig. Es kommt zunächst darauf an, der inneren Stimme Gehör zu verschaffen, indem wir für innere und äußere Ruhe sorgen und auf "Empfang" schalten. Dabei kann es helfen, sich zurückzuziehen und alle Ablenkungen auszublenden - etwa durch ein Medienfasten, aber auch durch Enthaltsamkeit bei der eigenen Kommunikations- und Mitteilungsbereitschaft. Mit Hilfe von "aktiver Geduld" können wir die nötige Achtsamkeit und Konzentration aufbringen, um die innere Evolution des Charakters zu beobachten und auf die oft leisen Stimmen von Intuitionen zu hören. Eine "poetische Haltung" erleichtert das Lesen der Zeichen, die uns der Dämon geben will - eine gesteigerte Sensibilität für Bilder, Metaphern und Symbole.

Überhaupt funktioniert eine künstlerische Betätigung wie ein seelisches Radar, sie macht uns sensibler für die Signale, die aus dem Unbewußten kommen. Im Malen oder Zeichnen gewinnt vieles von dem Gestalt, was aus Träumen und Gefühlen aufsteigt; beim Schreiben und Erzählen entwickeln sich Geschichten mit oft überraschenden Zusammenhängen und Einsichten; Tanz und Theaterspielen sind Möglichkeiten, um die Sprache des Körpers zu entschlüsselt. Das Argument, daß man dazu eine künstlerische Begabung brauche, läßt der Psychotherapeut Gregg Levoy nicht gelten: Jeder Mensch kann sich in irgendeiner Form künstlerisch ausdrücken. Als Kinder haben wir alle gerne gemalt, getanzt, Theater gespielt. Später haben wir den Kontakt zu unseren Begabungen verloren und unsere Talente verkommen lassen. Die Sinne wurden abgestumpft und durch die Konfektionskultur verdorben. Wie vieles andere haben wir auch die Kreativität an die "zuständigen" Experten, an die Künstler delegiert.

Der Vorteil von Erkenntnisprozessen, die durch expressive und künstlerische Zugänge zu unseren Träumen, Wünschen und Begabungen in Gang gesetzt werden, ist, daß wir sie selbst finden. C. G. Jung schrieb, daß Menschen nur sehr selten in ihr System von Überzeugungen integrieren, was ihnen andere sagen, selbst wenn sie teuer dafür bezahlen (wie etwa in einer Therapie). Bleibenden Eindruck hinterläßt dagegen das, was wir selbst herausgefunden oder als Botschaft von unserem Unbewußten erhalten haben.

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