Leiden - © Foto: Imago / Zuma Wire

Tischa beAw: Erinnerungen an das Leiden

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Zu Tischa beAw, dem größten religiösen Trauertag des jüdischen Jahres, gedenken Jüdinnen und Juden der zweimaligen Zerstörung des Tempels in Jerusalem.

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Zu Tischa beAw, dem größten religiösen Trauertag des jüdischen Jahres, gedenken Jüdinnen und Juden der zweimaligen Zerstörung des Tempels in Jerusalem.

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Tischa beAw ist der neunte Tag im Monat Aw. Er wird in tiefer Trauer begangen und ist ein religiöser Fasttag. Das Fasten beginnt ähnlich wie zu Jom Kippur (Versöhnungstag) am Abend des Vortages und dauert 24 Stunden bis zum Erscheinen der Sterne am nächsten Tag. Heuer beginnt Tischa beAw am Abend des 17. Juli. Dieser Trauer- und Fasttag erinnert an die Zerstörung Jerusalems und des Tempels.

Die Zerstörung des Ersten Tempels durch den babylonischen König Nebukadnezar (586 v. u. Z.) war vermutlich ebenfalls am neunten Tag des Monats Aw, obwohl im Buch der Könige Jeremia, der Prophet, bereits am siebten Tag trauerte, nicht aber am Tag der Zerstörung des Ersten Tempels. Die Zerstörung des Zweiten Tempels durch den römischen Kaiser und Feldherren Titus im Jahre 70 erfolgte ebenfalls am neunten Tag des Monats Aw.

Drei Wochen vorher, am 17. Tag des Monats Tammus, bezwangen die Römer nach großem Widerstand der Juden die Mauern Jerusalems, sodass ordnungsgemäße Gottesdienste im Tempel nicht mehr abgehalten werden konnten. Drei Wochen danach, also am 9. Aw, wurde der Tempel zerstört und brannte noch bis zum 10. Aw.

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Fünf Katastrophen des jüdischen Volkes

Dem Jerusalemer Talmud zufolge soll der Messias ebenfalls am 9. Aw geboren werden. Nach der Mischna haben sich fünf Katastrophen des jüdischen Volkes am 9. Aw ereignet, sodass dieser Tag zu einem Fastund Trauertag religiös legitimiert wurde:

  • Dem Volke Israel wurde am 9. Aw vom Ewigen 40 Jahre Wüstenwanderung angekündigt.
  • Der Erste Tempel (Salomonischer Tempel) und das Königreich Juda wurden von Nebukadnezar zerstört. Der Prophet Jeremia hat in seinen Botschaften an den jüdischen König und das jüdische Volk dieses Unheil angekündigt, wenn nicht Reue und Umkehr für die Sünden erfolgen. Die Judäer wurden als Gefangene ins Exil nach Babylon verbannt. Giuseppe Verdi hat in seiner Oper „Nabucco“ die Gefangenschaft der Juden thematisiert.
  • Der wiederaufgebaute, von Herodes prächtig ausgestattete Zweite Tempel wurde 70 n. u. Z. vom römischen Kaiser Titus zerstört.
  • Der Bar-Kochba-Aufstand gegen Rom wurde 135 niedergeschlagen und die Festung Betar in Judäa von den Römern unter Kaiser Hadrian erobert. Hunderttausend Juden wurde niedergemetzelt.
  • Ein Jahr nach dem Fall der Festung Betar ließ Kaiser Hadrian 136 Jerusalem dem Erdboden gleichmachen und symbolisch den Pflug über die Erde Jerusalems und den Tempelberg ziehen. Den Juden war es bei Todesstrafe verboten, das Areal Jerusalems und des Tempelberges zu betreten. Hadrian ließ die Stadt neu aufbauen und gab ihr den Namen „Aelia capitolina“.

Hadrian wollte das Judentum ausmerzen, verbot die Einhaltung des Schabbat und aller religiösen Gebote der Tora. Der Name Judäa wurde auf Befehl Hadrians ausgelöscht – niemand sollte sich an diesen Namen erinnern. Nach dem schmalen Küstenstreifen Philistea, wo die Philister mehrere Städte hatten, wurde das Gebiet neu benannt. Es hieß Palästina (Philistea) und der Namen Judäa geriet in Vergessenheit. Es war die perfekte „damnatio memoriae“, die 2000 Jahre wirkte.

Nach dem Talmud war grundloser Hass (auf Hebräisch Sinat Chinam) der Auslöser für die Zerstörung des Zweiten Tempels. Rabbi Jochanan ben Sakkai lehrte, dass der Streit zwischen zwei Jerusalemer Familien (Kamza und BarKamza) die Zerstörung des Tempels zur Folge hatte. Irrtümlich wurde BarKamza durch einen Diener zu einem Fest eingeladen und von seinem Feind vor aller Augen hinausgeworfen, obwohl BarKamza sich versöhnlich zeigte und sogar bereit erklärte, die gesamten Kosten des Festes zu tragen, wenn der Gastgeber ihn am Feste teilnehmen ließe. Vor den Augen aller wurde BarKamza beschämt. Er rächte sich durch eine Intrige beim Caesar, was Zerstörung des Tempels und Vertreibung der Juden ins Exil zur Folge hatte.

Klagelieder – „Kinot“

Im Judentum gilt, dass jede Beschämung eines Menschen so zu werten ist, als hätte man ihn getötet. Aus der Talmud-Erzählung des Rabbi Jochanan ben Sakkai geht hervor, dass grundloser Hass die Beschämung eines Menschen vor aller Augen ohne Einschreiten der anwesenden Rabbiner eine Folge von Ereignissen auslöste, die zur Zerstörung des Zweiten Tempels führte und zum Verlust der politischen und nationalen Souveränität der Juden, die ins Exil in die Diaspora zerstreut wurden.

Nach den Trauervorschriften darf zu Tischa beAw 24 Stunden lang weder gegessen noch getrunken werden. Man sitzt als Zeichen der Trauer am Boden oder auf niedrigen Hockern und verliest die Klagelieder Kinot. Die Kinot beinhalten die biblischen Elegien Jeremias (Echa) aber auch historische Trauerlieder, die sich auf Katastrophen in der Geschichte des jüdischen Volkes beziehen.

Nach den Vorschriften darf zu Tischa beAw 24 Stunden lang weder gegessen noch getrunken werden. Man sitzt zur Trauer am Boden oder auf niedrigen Hockern.

Am Morgen von Tischa beAw begrüßen die Betenden einander nicht, sie tragen keine Lederschuhe, legen auch nicht, wie beim Morgengebet sonst üblich, die Gebetsriemen – Tefillin - und den Gebetsmantel – Tallit - an, da die Erfüllung der Gebote (Mizwot) vom Anlegen der Tefillin und des Tallit Gebote der Freude sind. An diesem Trauertag wird alles, was mit Freude verbunden ist, nicht getan. Auch das Studium der Tora ist untersagt, weil es dem Lernenden ein intellektuelles Vergnügen bereitet. Es werden nur solche Passagen aus den heiligen Büchern gelesen, die der Trauer entsprechen.

Am Morgen wird in den Kinot der zehn Märtyrer gedacht, die sich dem Verbot Hadrians widersetzten und die religiösen Vorschriften einhielten. So wurde zum Beispiel dem großen Gelehrten Rabbi Akiba mit scharfen Rechen bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Akiba starb mit dem Sch‘ma Jisrael („Höre Israel“, Dtn 6,4) auf den Lippen.

In späteren Zeiten wurden die Kinot um weitere Heimsuchungen der Juden – Kreuzzüge, Pest (für die die Juden verantwortlich gemacht wurden) und allgemeine bzw. örtliche Judenmetzeleien erweitert.

Simon Wiesenthal hat ein Buch verfasst: „Jeder Tag des Jahres ein Gedenktag“. Dieses Buch beansprucht nicht die Vollständigkeit aller Judenverfolgungen, sondern zeigt, dass an jedem Tag der Ermordung von Juden gedacht werden könnte. Weitere historische Kinot sind Trauerlieder auf zusätzliche Heimsuchungen der Juden: 1099 rief Papst Urban II. zum Ersten Kreuzzug auf. In den ersten Tagen dieses Kreuzzuges wurden im Rheinland und in Frankreich mehr als zehntausend Juden von den Kreuzrittern getötet. Blühende jüdische Gemeinden, wie zum Beispiel Mainz, Worms, Trier, Speyer, Köln, wurden vernichtet. Klagelieder beziehen sich auch auf die Ausweisung von Juden aus England (1290), begleitet von Mord, Totschlag und Beschlagnahmung des Besitzes der Juden.

Auch die Inquisition in Spanien und Portugal forderte zahlreiche jüdische Opfer. Zu Tischa beAw 1492, am 3. August, segelte Kolumbus nach „Amerika“, finanziert von spanisch-portugiesischen Juden. 1914, beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges, lebten 75 Prozent aller Juden in den Kriegsgebieten Osteuropas. Etwa 120.000 jüdische Soldaten fielen in den sich bekämpfenden Armeen. Über 400 Pogrome fanden unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Ungarn, Ukraine, Polen und Russland statt. 1942 erfolgten zu Tischa beAw die ersten Deportationen von Warschau in das Vernichtungslager Treblinka. Der sechs Millionen durch die Nationalsozialisten ermordeten Juden wird auch zu Tischa beAw gedacht.

Am Nachmittag von Tischa beAw mischen sich in die Trauer auch Trost, da nach der jüdischen Tradition die Geburt des Messias am 9. Aw erfolgen wird. Man legt die Gebetsriemen, Tefillin, und den Gebetsmantel, Tallit, an und spricht das Nachmittagsgebet.

Auf dem Weg zu Rosch Haschana

Das Leben im Exil nach der Vertreibung aus Jerusalem – verbunden mit großem Leid – soll nach religiöser Ansicht die Juden läutern und der Menschheit Frieden, Gerechtigkeit und Liebe bringen. Sieben Wochen nach Tischa beAw wird im religiösen jüdischen Jahr durch das Ertönen des Schofar (Widderhorn) Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest, eingeleitet. In diesen sieben Wochen wird an jedem Schabbat (Samstag) ein Abschnitt des Propheten Jesaja (Deutero-Jesaja), der Hoffnung, Sehnsucht nach Erlösung und Verheißung der Wiederkehr nach Zion beinhaltet, gelesen.

Diese sieben Schabbatot (= Mehrzahl von Schabbat) zwischen Tischa beAw und Rosch Haschanah heißen Schewa Dnechemata. Es sind sieben Lesungen des Trostes und der Erlösung der gesamten Menschheit. Nach diesem Jesaja-Abschnitt wird von Zion Gerechtigkeit und Friede für alle Menschen ausgehen. Die kollektive Trauer der Kinot wird zum Trost der Menschheit und zur Hoffnung und Erlösung der Welt.

Der Autor, Jg. 1944, überlebte die Schoa als Baby in Wien und wirkte viele Jahre als Arzt.

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