Von der Schande zum Ruhm

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Das jüdische Pesach-Fest, das dieser Tage begangen wird - und das christliche Ostern: Zwei Feiergestalten einer Hoffnung.

In den Tagen ab dem 20. April feiern die Juden heuer Pesach. Orthodoxe Christen gehen in die Karwoche und für die Christen der Westkirchen bricht an diesem Tag die fünfte Osterwoche von sieben an, die "wie ein einziger Ostersonntag" zu feiern sind (Tertullian, 2./3. Jh.). Was gibt Anlass zu solch lang anhaltender Festesfreude? Und was wird in jener außergewöhnlichen Nacht gefeiert, die so anders ist als alle anderen Nächte? Pesach und Ostern sind "zwei Feste wie zwei Schwestern", so der Liturgiewissenschafter Clemens Leonhard. Was aber macht ihren Eigencharakter, was die Verwandtschaft aus?

Aus Sklaven wird Volk Gottes

Pesach erinnert eine merkwürdige Erfahrung. Eine Gruppe unbedeutender, armseliger Fremdarbeiter im Nildelta erhält unerwartet göttlichen Beistand; um ihretwillen legt Gott sich mit dem Herrscher an, er entzieht die Rechtlosen dessen Gewalt und führt sie in die Freiheit. Als man sie noch einmal zurückzwingen will, lässt Gott sie auf wunderbare Weise entkommen und ihre Verfolger untergehen. Aus Sklaven wird das Volk Gottes. Später dürfen die Geretteten "ihr" Land bewohnen um dort nach der Weisung ihres Gottes zu leben. Das soll sie davor bewahren, selbst jemals so anmaßend zu werden wie "Ägypten" und die geschenkte Freiheit zu verspielen. Seine Identität verdankt Israel also nicht der Abstammung von Göttern oder großen Ahnen, auch nicht eigener Stärke, sondern dem Handeln seines Gottes, der sich mit Vorliebe derer annimmt, für die sonst keiner eintreten würde.

Verdichtet hat sich diese Erfahrung in der biblischen Erzählung vom Exodus. Von Generation zu Generation weitergegeben wird sie in der jährlichen Feier von Pesach. Immer aber beziehen sich die Feiernden auf Vergangenes, um daraus Hoffnung für ihre Gegenwart und Zukunft zu schöpfen.

Pesach in Bibel und heute

Die Bibel ordnet wiederholt an, Pesach zu begehen, und kennt unterschiedliche Feierformen, je nach den örtlichen und politischen Umständen, die gerade herrschen. Die Kultreform König Joschijas (7. Jh.) rückt den Jerusalemer Tempel ins Zentrum: Nur dort dürfen fortan die Pesach-Lämmer geschlachtet werden. Ein Anspruch, der auch während der knapp 50 Jahre des Babylonischen Exils - die Rückkehr (539 v. Chr.) wird als neuer Exodus gedeutet, der Tempel wieder errichtet - bis in die Zeit Jesu Gültigkeit behält.

Jesus zieht mehrmals nach Jerusalem, um dort inmitten des regen Pilgerbetriebs im Kreis seiner Freunde Pesach zu feiern. In der damals unter römischer Besatzung leidenden Bevölkerung steigt gerade in den Tagen vor Pesach die Befreiungshoffnung, und manch ein Ungeduldiger zeigt Bereitschaft zur gewalttätigen Mitwirkung daran. In dieser nervös-angespannten Situation ist das Todesurteil über Jesus als Volksverhetzer rasch gefällt. Einige Jahrzehnte danach kommt es für die Juden zur eigentlichen Katastrophe: Die Schleifung des Tempels 70 n. Chr. und die Zerstörung Jerusalems sowie die Vertreibung der Juden aus der Stadt (135 n. Chr.) werden zur entscheidenden Herausforderung. Wie kann Pesach künftig gefeiert werden?

Unter rabbinischer Federführung nimmt eine Entwicklung ihren Lauf, die erst im Mittelalter abgeschlossen ist: Man orientiert sich an der Bibel, verarbeitet Einflüsse aus der spätantiken hellenistischen Mahlkultur und achtet darauf, sich von den Christen und ihrer sich entfaltenden jährlichen Osterfeier abzugrenzen. Neben dem Synagogengottesdienst wird schließlich jene Feierform des "Pesach der Generationen" in Verlauf und Wortlaut festgeschrieben, die wir heute kennen: eine häusliche Liturgie - der Seder, hebräisch Ordnung - mit Text, Gebet und Gesang, verbunden mit einem Abendessen mit Weingenuss und zahlreichen symbolischen Speisen, aber kein Lamm.

Der Seder-Abend

Entscheidend ist es, an diesem Abend ein Gespräch über die Bedeutung des nächtlichen Wachens in Gang zu bringen. "Warum ist diese Nacht anders als alle anderen?" So lautet die rituelle Frage, die ein anwesendes Kind zu Beginn stellt. Danach hat der Hausvater Gelegenheit zur Belehrung der Anwesenden. Als Ausgangstext dafür kann er zwischen mehreren biblischen Abschnitten wählen, denen eines gemeinsam ist: Sie alle "beginnen bei der Schande und enden beim Ruhm". Die Feiernden aber sind "verpflichtet, sich selbst so anzusehen, wie wenn man selbst aus Ägypten ausgezogen wäre" (Mischna Pesachim 10,4): Mein Vater war ein heimatloser Aramäer, Wir waren Sklaven des Pharao …

Die Exodus-Erzählung ist weder Kriegsbericht noch Siegergeschichte. Um wirklich Hoffnungsgeschichte zu bleiben, muss und darf nicht verschwiegen werden, wie gefährdet Menschen sind, verloren zu gehen oder andere zu Verlierern zu machen. Pesach zu feiern erlaubt einen realistischen Blick auf die Welt ohne verzweifeln zu müssen. Pesach zu feiern heißt, sich von Gott retten zu lassen.

Irritierende Erfahrung Ostern

Auch die Osterfreude der Christen gründet in einer irritierenden Erfahrung. Auch sie spart weder Schande noch Scheitern aus und erzählt von Jesus, der freiwillig "wie ein Sklave und den Menschen gleich" wurde, "ohne auf die Schande zu achten" (Hebr 12,2). Nach menschlichem Ermessen schlägt sein Leben fehl: 30 unauffällige Jahre, drei Jahre mäßig erfolgreiche Lehrtätigkeit auf Wanderschaft; zuletzt der skandalöse Verbrechertod am Kreuz, der alle Hoffnungen seiner Anhänger zunichte macht.

Dann geschieht das Unausdenkbare: Der Totgeglaubte lebt und begegnet erst den Frauen, später den Jüngern. Deren anfängliches Entsetzen, Staunen, Zweifel und Nichtverstehen wandelt sich erst nach und nach in Glauben. Der 50. Tag danach - Pfingsten - wird zum Symbol eines Durchbruchs: Die Jünger überwinden ihre Menschenfurcht und fangen an, die "törichte" Botschaft vom Kreuz zu verkünden, und - wie Paulus sagt - sie schämen sich nicht für das Evangelium, denn "es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt" (Röm 1,16).

Christliches Pesach?

Paulus, ein bibelfester Schriftgelehrter, begreift die Auferweckung Christi als neuen und endgültigen Exodus: Christus hat der Herrschaft der Sünde ein Ende bereitet und ist aus dem Tod ins neue Leben gegangen. Mit ihm geht diesen Weg schon jetzt, wer auf Jesu Tod und Auferstehung getauft wird. Und das Lamm? "Schafft den alten Sauerteig weg, damit ihr neuer Teig seid. Ihr seid ja schon ungesäuertes Brot; denn als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden." (1 Kor 5,7). Gemeint ist nicht, ein jüdisches Pesach zu halten oder es christlich zu adaptieren, sondern ein der neuen Existenzweise entsprechendes Leben zu führen. Und die Bibel zu lesen: Weil Christus zugleich Lamm und Wort (Gottes) ist, "essen" Christen das Pascha, indem sie die Heilige Schrift verinnerlichen und als "Fleisch des Lammes" in sich aufnehmen … (Origenes, 3. Jh.)

Drei der vier Evangelien beschreiben das Abschiedsmahl Jesu als Pesachmahl. Das ist nicht von historischem Interesse, sondern wichtig für die neue Deutung, die Jesus dem gebrochenen und geteilten Brot und dem reihum gereichten Weinbecher gibt. Die Abendmahlsworte verknüpfen dabei mehrere biblische Motive: die Vergebung der Schuld durch den Neuen Bund (Jer 31,31.34), das Vergießen von Blut beim Bundesschluss (Ex 24,8) und den Gottesknecht, der die Sünden "von Vielen", d. h. aller Menschen, trägt (Jes 53,12). Jesu Lebenshingabe "mit Leib und Blut" - ein für alle Mal auf Golgota und vergegenwärtigt in der Eucharistie - erfüllt diese Verheißungen.

Im Johannes-Evangelium dagegen stirbt Jesus bereits am Nachmittag des Rüsttages zum Pesach. Zu dieser Zeit werden im Tempel die Pesach-Lämmer geschlachtet. In der Sprache des 4. Evangeliums ist Jesus deshalb das "Lamm Gottes", das die Sünde der Welt trägt und geopfert wird (Joh 19,14.42; vgl. Joh 1,29). Auch hier klingt das Motiv des leidenden Gottesknechts an, der "wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt", seinen Mund nicht auftat (Jes 53,7).

Zwei Lesarten des Exodus

Wer die österliche Bedeutung von Taufe und Eucharistie verstehen will, muss die Exodus-Erzählung und ihre Hoffnung für die Verlorenen kennen und sich wie sie erlösen lassen. Ostern zu feiern erlaubt einen realistischen Blick auf die Welt, ohne verzweifeln zu müssen. Ostern zu feiern heißt, mit Christus ins neue Leben gegangen zu sein.

Nicht notwendig und auch nicht sachgerecht oder gar respektvoll ist es, Ostern "jüdisch" feiern zu wollen und die Feier des Letzten Abendmahls oder der Osternacht mit Elementen des (heutigen) Pesach-Seder anzureichern, den auch Jesus nicht gefeiert hat. Die Getauften werden der Würde Israels teilhaftig, ohne das zuerst und bleibend erwählte Gottesvolk zu enteignen. - Weder durch Überbietung noch durch Ignoranz oder Ablehnung und auch nicht durch wohlwollende Vereinnahmung seiner Traditionen.

Die Autorin ist wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin der Theologischen Kurse.

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