Wohnen lernen in der Zivilisation

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Gerhard Schulze hat mit seinem soziologischen Bestseller "Erlebnisgesellschaft" die neunziger Jahre auf den Begriff gebracht. In seinem neuen Buch analysiert er, wohin sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert bewegt. Im furche-Gespräch geht es um eine neue Aufmerksamkeit für das Sein, für Begegnung, Gemeinschaft und Kultur.

Die Furche: Herr Schulze, 1992 hat Ihr Buch "Erlebnisgesellschaft" Aufsehen erregt. Leben wir noch in der Erlebnisgesellschaft?

Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft war die erste sichtbare Antwort auf eine Situation der Knappheit in den fünfziger Jahren. In den sechziger Jahren kam dann die Entdeckung der Subjektivität und der Legitimität dessen, was der Einzelne für sich selber möchte, durch die Studentenbewegung. Das war ein kultureller Schritt in Richtung auf das, was Foucault als "Sorge um sich" bezeichnet hat - die Verlagerung unserer Zielvorstellungen von den äußeren Verhältnissen - Was besitze ich? Was für technische Apparate habe ich? Was kann ich? - nach innen. Die existenzielle Grundfrage war dann: Was passiert in mir, wenn ich mit all dem umgehe, was ich geschaffen habe? Und die Antwort lag zunächst ganz in der Logik der traditionellen Modernisierung: eine Rationalisierung auch des Erlebens, man hat versucht, mit sich selber so umzugehen wie ein Ingenieur mit einer Maschine, die er weiterentwickelt; und die Devise war: mehr, intensiver an sich selbst herankommen und immer neue subjektive Horizonte auftun. Das war die Erlebnisgesellschaft.

Nun sind zwölf Jahre vergangen und man hat gemerkt, dass das Subjekt ganz anders zu betrachten und zu behandeln ist als etwas Objektives. Deshalb sagen heute viele: Ich brauche nicht ständig einen neuen Kick. Es gibt wieder die Entdeckung des Spazierengehens, der Reizarmut, der Ruhe - also eine Haltung des Subjekts sich selbst gegenüber, die geprägt ist vom Abwarten, vom Heraufkommen-Lassen dessen, was sich entwickelt in einem. Man will also nicht mehr etwas Äußeres bewegen, um etwas Inneres auszulösen, sondern kann warten, was von innen kommt und kultiviert das dann.

Die Furche: Zeigt sich hier die neue Dimension kollektiven Lernens, von der Sie in Ihrem Buch sprechen?

Schulze: Sie zeigt sich im Umgang mit uns selbst, aber auch mit anderen oder mit Geräten. Ein ganz einfaches Beispiel: Was ist, wenn alle Leute Handys haben? Jetzt geht es nur noch darum, mit diesen Handys sinnvoll zu kommunizieren. Für alle stellt sich die kulturelle Frage: Was will ich dem anderen eigentlich sagen und will ich dem anderen gerne zuhören? Und so ist es bei allen langfristigen technischen Entwicklungspfaden, dass sie am Schluss in eine Situation der Ankunft münden, wo - um einen Vergleich zu gebrauchen - das Problem des Hausbaues in das Problem des gemeinsamen Wohnens umschlägt. Immer führt die Technik letztlich in eine Situation, wo man sagt: Das Problem ist gelöst - was machen wir jetzt eigentlich?

Die Furche:Wie lernen wir wohnen in der Zivilisation, die wir geschaffen haben?

Schulze: Das kann niemand sagen. Ich würde auch als Soziologe nie wagen, das, was die Menschen für sich herausfinden, vorwegzunehmen. Es gibt viele Ratgeber und Imperative, einen Markt der Glücksimperative - höchst widersprüchlich, sodass letztendlich die Verantwortung doch wieder beim Einzelnen liegt, der etwas ausprobiert, selbstempfundene Irrwege beschreitet, durch Versuch und Irrtum lernt und sich mit anderen darüber austauscht. Dabei wird sich etwas Neues entwickeln, was jetzt nicht vorhersehbar ist. Man kann aber doch sagen, dass ein generelles Thema sich für viele Menschen mehr und mehr stellt, und das ist eben das Thema des Aufenthaltes in einem gegebenen Möglichkeitsraum, das Thema Kultur.

Die Furche: Heißt Kultur: Mehr Menschen lesen das Feuilleton, gehen ins Konzert, nehmen die alten kulturellen Ressourcen wahr?

Schulze: Kultur ist das, was Menschen häufig tun. Und das ist sehr viel, zum Beispiel auch Inlineskaten. Alleine die Selbstkultivierung, die darin steckt, mit seinem Körper so umzugehen. Und auch das, was man dabei erleben kann, sich wirklich abzuholen: Das ist für mich genauso bewundernswert, wie wenn jemand eine Klaviersonate gut spielt. Die Trennung von Trivial- und Hochkultur hat etwas ganz Willkürliches, wenn man von einem Kulturbegriff ausgeht, der respektiert, was Menschen für sich als repetitive Muster entwickeln und als etwas, was nicht jeder sofort kann.

Die Furche: Das Buch heißt "Die beste aller Welten" - gehen wir also doch zumindest in eine bessere Welt?

Schulze: Das ist ein Missverständnis, und daran bin ich selber schuld. Der Titel ist ironisch gemeint: als Zitat des Programms der Moderne. Das besteht in der permanenten Unzufriedenheit und darin, dass man damit praktisch etwas anfängt. "Die beste aller Welten" ist eine Formel, die eine Suchbewegung beschreibt, und zwar in Anspielung auch auf Leibniz, von dem diese Formel stammt und der der Meinung war: Wir sind bereits in der besten aller Welten, denn sie ist ja von Gott so geschaffen, und wenn sie nicht die beste wäre, dann wäre Gott nicht Gott. Dagegen hat man in der darauf folgenden philosophischen Epoche gesagt: Natürlich sind wir nicht in der besten aller Welten, aber es liegt in unserer Macht, die Welt zu verbessern. Wir können nicht darauf warten, dass Gott uns hilft, wir müssen uns selbst helfen. Daraus entwickelte sich die Dynamik der Moderne, in der wir uns noch immer befinden und hoffentlich auch in Zukunft befinden werden. Ich halte den Begriff der Moderne für einen zentralen normativen Begriff und als kleinsten gemeinsamen Nenner für unentbehrlich. Darauf können wir uns wenigstens einigen, auch wenn wir in verschiedene Richtungen denken: Es soll irgendwie besser werden, und wir trauen's uns zu.

Die Furche: Eine Dimension dessen nennen Sie "Steigerungsspiel". Was meinen Sie damit?

Schulze: Gemeint ist die ständige Erweiterung der Möglichkeiten, wie sie jedem vertraut ist, der etwa ein neues Auto kauft. "Steigerungsspiel" charakterisiert die Regelhaftigkeit dieser Transformation, zustande gebracht durch viele Akteure - etwa einen Elektronikkonzern, eine Hausfrau, einen Wissenschaftler, einen Arzt im Krankenhaus -, die ganz unterschiedliche Handlungshorizonte haben, aber gegenseitig Steigerungsergebnisse nachfragen und anbieten. Ein Tausch findet statt, ein kollektives Spiel, das über ganz lange Zeit Bestand hatte und einen Sog entwickelt hat; auch für das Denken der Menschen, das sich immer mehr in diese Eindimensionalität des Mehr-Könnens verstrickte.

Die Furche: Ist das Steigerungsspiel jetzt zu Ende. Und was folgt?

Schulze: Obwohl viele ein "Ende des Wachstums" erwarten, spricht alles dafür, dass das Steigerungsspiel weitergehen wird. Es lebt ja von Problemen, und davon haben wir genug. Ein Beispiel dafür ist die Umwelttechnologie, die ja auf einen Mangel mit Steigerung (etwa der Energieeffizienz) antwortet. Aber das Steigerungsspiel verliert seine Dominanz. Je mehr die Menschen können, desto wichtiger wird es ihnen, wie sie in dem erweiterten Möglichkeitsraum leben wollen. Wir erreichen ein Stadium, in dem Fragen der Ankunft, des Aufenthalts, des Seins uns ebenso stark herausfordern werden wie die Fragen des Könnens am Anfang der Moderne. Nun wendet sich kollektives Lernen einer zweiten Dimension zu, ohne die erste zu vergessen.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

Die beste aller Welten

Gerhard Schulze, geboren 1944,

studierte Soziologie in München und Nürnberg und ist seit 1978 Professor

für empirische Sozialforschung an der Universität Bamberg. Sein Buch "Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie

der Gegenwart" hat seit 1992 acht

Auflagen erlebt und ist neben der

"Risikogesellschaft" von Ulrich Beck

und der "Multioptionsgesellschaft"

von Peter Gross zur zentralen

Gesellschaftsdiagnose der neunziger

Jahre geworden. 1999 unternahm

Schulze "Streifzüge durch die

Event-Kultur", die unter dem Titel

"Kulissen des Glücks" erschienen.

Mit dem 2003 erschienenen Buch

"Die beste aller Welten" stellt er sich

der Frage: "Wohin bewegt sich die

Gesellschaft im 21. Jahrhundert?".

Vor kurzem war Schulze zu einem

Studientag im Bildungshaus Schloss Puchberg zu Gast, wo das nebenstehende Gespräch mit ihm geführt wurde.

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