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Die müde Erlebnisgesellschaft

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Was will ich eigentlich? Das ist eine Frage, die sich den Menschen in den westlichen Industrieländern heute so häufig und in einem Ausmaß stellt wie nie zuvor.

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Was will ich eigentlich? Das ist eine Frage, die sich den Menschen in den westlichen Industrieländern heute so häufig und in einem Ausmaß stellt wie nie zuvor.

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Wir alle haben jeden Tag viel mehr Wahlmöglichkeiten als noch unsere Eltern, viel mehr Chancen tatsächlich zu erleben, wovon sie nur träumen konnten: Badeferien auf einer Südseeinsel, Silvesterparty in Paris, Karneval in Venedig... Für uns handelt es sich um durchaus realistische Möglichkeiten, die „schönsten" Tage im Jahr auf möglichst angenehme Art zu verbringen, sie zu einem „wirklichen Erlebnis" werden zu lassen.

Eigenartig, daß sich dieses „wirkliche Erlebnis" dann oft gar nicht einstellt! Ist es deshalb, weil wir dann doch nicht die richtige Reise im Katalog gefunden haben oder nicht jene Champagnermarke aus dem reichhaltigen Angebot gewählt haben, „die es gewesen wäre"?

Mit den vielen erweiterten Wahlmöglichkeiten - an sich eine durchaus positive Sache - steigt die Unsicherheit des einzelnen, der ständig wählen kann und muß. Es wächst die Orientierungslosigkeit und das Enttäuschungsrisiko. Der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze konstatiert in seinem 1992 veröffentlichten und mittlerweile in dritter Auflage erschienenen Buch „Die Erlebnisgesell-

schaft", daß diese „mit steigendem Aufwand nach dem Glück sucht: Der ,homo ludens' spielt mit zunehmender Verbissenheit".

Die Suche nach dem Glück, nach Daseinsfreude und Lebensgenuß als wichtige positive Antriebskräfte des Menschen seien für viele zu einer Sucht geworden, stellt auch der Salzburger Psychologe Christian Allesch fest. Wenn es nicht ständig etwas Neues zu erleben gibt, droht Langeweile. Ein gefürchteter und mitunter auch höchst gefährlicher Zustand!

Hier ist sonst nie was los

Wenn man sich, so Allesch, etwa vor Augen führt, daß mancher Akt von Vandalismus und mancher Übergriff gegen Ausländer damit erklärt wird, daß „hier sonst nie etwas los" sei. Dennoch, so meint der Psychologe, den moralisierenden Warnern vor der Schalheit und Vergänglichkeit allen irdischen Genusses wolle er damit nicht das Wort reden.

Wenn tatsächlich, wie Schulze schreibt, „die Erlebnisorientierung längst unser aller Alltag durchtränkt hat", wenn wirklich Abstammung, verwandtschaftliche Beziehung, Religion, ökonomische Situation, ständische, kulturelle und lokale Zugehörigkeit bei der Auswahl des eigenen Umgangs, der Freunde, Partner nur mehr eine untergeordnete Rolle spielen und die „Erlebnisgemeinschaft" die Hauptrolle - was will man dann noch mit Moralisieren erreichen?

Dies fragte sich auch der Salzburger Theologe Michael Emst in seinen Überlegungen, wo sich die Religionen und speziell das „Jesusprojekt in der modernen Erlebnisgesellschaft" wiederfinden. Zum Teil wird mitgemacht: Man bietet die eigene „Ware" am Erlebnismarkt an - wie andere Waren auch. Zumal die Nachfrage ja groß ist, besonders von jener der fünf von Schulze nach Alter, Bildungsstand und Lebensstil unterschiedenen sozialen Gruppierungen, die er das „Selbstverwirklichungsmilieu" nennt.

Man sucht nach tiefgehenden seelischen Erlebnissen und findet sie teilweise auch. Doch wie rasch mündet ein solcher erlebnisorientierter Umgang mit dem „Konsumartikel" religiöse Erfahrung ebenfalls in Enttäuschung und Langeweile?

Auswege aus der Situation, in die die westliche Industriegesellschaft nach Schulzes Meinung in den letzten 30 Jahren immer mehr hineingeraten ist, gerade durch die vielen neuen Wahlmöglichkeiten, die sie - oft nur scheinbar-hat, wurden bei dem kürzlich an der Universität Salzburg zu diesem Thema geführten Gespräch kaum sichtbar. Die Gefahren, die der Rückzug vieler Menschen auf das eigene Erleben, ihre Abwendung von den Problemen der Gemeinschaft, in sich birgt, wurden dafür umso deutlicher. So konstatierte der Politikwissenschafter Herbert Dachs eine für unsere demokratische Gesellschaftsordnung bedenkliche Entwicklung.

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