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Digital In Arbeit

Babysitter sucht Fliesenleger

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Ich habe das Zimmer nicht mehr richtig benützt, und wenn es notwendig war, habe ich eine Kerze angezündet", erzählt Gabriele M., Studentin in Wien. Monatelang war das Licht in einem Zimmer ihrer Altbauwohnung kaputt gewesen. Die Elektroleitungen sind alt und nicht geerdet; ein Elektriker, so meinte sie, hätte sicher 15.000 Schilling verlangt. „Ich konnte mir aber einen Handwerker nicht leisten."

Dieser Fall zeigt einmal mehr die Absurdität der derzeitigen Situation: Einerseits haben wir das Problem der Arbeitslosigkeit, andererseits gibt es genug zu tun, aber die Arbeit ist kaum mehr bezahlbar. So bleiben viele Arbeiten unerledigt und viele Menschen unbeschäftigt. „Gestern habe ich das Licht reparieren lassen." Gabriele hatte doppeltes Glück. Die Reparatur war weniger aufwendig als befürchtet, sie mußte auch keine neuen Leitungen verlegen lassen. Und sie mußte keinen Schilling bezahlen.

Gabriele nimmt am Wiener LETS Work-Shop teil, wobei LETS eine Abkürzung für „Local Exchange Tra-ding System" ist, was etwa „lokales Tauschsystem" bedeutet. Es ist eines von mehreren solcher Experimente, die im letzten Jahr in Österreich angelaufen sind. Andernorts gibt es solche Systeme schon länger. Die Teilnehmer eines LETS tauschen Leistungen und Güter untereinander. Sie tauschen aber nicht im herkömmlichen Sinn nach dem Motto: Ich gebe dir Brot, und du gibst mir Milch. In einem LETS ist der Tausch organisiert. Die Teilnehmer tauschen über mehrere Stationen: Anton gibt Berta ein X, Berta erledigt für Cäsar ein Y, die Reihe kann man beliebig weiter denken, wenn nur am Schluß Zeppelin etwas für Anton macht.

Der Vorteil gegenüber einem herkömmlichen Tausch besteht in der Freiheit des einzelnen Tauschpartners. Er oder sie kann unabhängig von der Leistung, die er/sie erhält, seine/ihre Leistung anbieten; also er/sie bestimmt - wie beim Kauf —, was er/sie wem wann und wo anbietet beziehungsweise nachfragt.

Gabriele erzählt: „Ich habe Manfred einen Gutschein für 150 Waffel gegeben" (Waffel ist der programmatische Name für die Verrechnungseinheit im Wiener LETS: „Wir Arbeiten Füreinander Für Einheitlichen Lohn" - ein Waffel wird wie ein Schilling bewertet).

Manfred G., ein teilzeitbeschäftigter Lehrer für Mathematik, Physik und Chemie, reparierte für Gabriele das Licht. Die LETS-Zentrale schrieb Manfred die 150 Waffel gut. Manfred: „Ich habe mir dafür das Internet erklären lassen - ein bißchen angeschaut, welche Mailboxen es gibt." Gabriele bietet beeidete Spanisch-Ubersetzungen an, um ihr Minus von 150 Waffel in der LETS-Zentrale auszugleichen.

Die Mitbegründerin des Wiener LETS, Alessandra Kunz, erklärt: „Je mehr Leute aktiv nachfragen und anbieten, umso besser funktioniert das System, was allen zugutekommt." Je vielfältiger die Tauschmöglichkeiten sind, desto eher findet der einzelne innerhalb des Systems das, was er sucht, und desto unabhängiger ist er vom Geld. Michael Graf vom Innsbrucker 1 alent-Experiment, einem ähnlichen Tauschsystem, nennt noch andere Argumente für das Tauschsystem: Menschen, die als kleinsten gemeinsamen Nenner Lwaflanitäre Ziele» haben, kommen zusammen, entwickeln ihre Kreativität und genießen soziale Kontakte.

Hausfrauen und Mütter, Alte, Behinderte, Studenten und Arbeitslose finden in der herkömmlichen Wirtschaft auf Geldbasis oft keinen Platz auf der Anbieterseite. Und das, obwohl sie Sprachen lehren, Babysitten, Basen mähen und vieles andere tun könnten. Gleichzeitig schließt die Wirtschaft Menschen ohne viel Geld weitgehend von der Nachfrageseite aus. Und das, obwohl sie Türen gestrichen, Hilfe bei Behördenwegen und Massagen brauchen: es fehlt ihnen an Geld. Ein Tauschsystem wie LETS floriert besonders dann, wenn es viele Menschen ohne Arbeit und mit wenig Geld gibt.

Das historische Vorbild der Tauschsysteme fand entsprechend in den dreißiger Jahren - zur Zeit der Massenarbeitslosigkeit und Depression -statt, und zwar in Wörgl (Tirol). Neuere Modelle finden sich im rezessionsgeplagten Kanada und auf den Britischen Inseln der Margaret Thatcher. Dort gibt es inzwischen mehr als 300 solcher Tausch-Systeme. In Australien akzeptieren mittlerweile lokale Steuerbehörden Zahlungen in der Verrechnungseinheit des Tausch -Systems: das heißt, sie nehmen Steuern in der Form eines Leistungsangebots, wie Basenmähen, an. Soweit ist es bei uns allerdings noch lange nicht.

Während sich in Deutschland die Tauschsysteme als Vereine konstituieren können, erschweren hierzulande das Vereins- und Bankengesetz die Vereinsgründung. Stefan Göller, Mitinitiator des Wiener LETS und Jurist weiß: „Die öffentliche Verwaltung könnte die Verrechnung von Gutscheinen als Girogeschäft sehen, das ist Banken vorbehalten." Und: „Vereinen ist dezidiert jede Art von Bankgeschalt untersagt." Deshalb, und weil man erst Erfahrungen sammeln will, stehe der Spiel- und Experimentiercharakter zur Zeit im Vordergrund. Michael Graf in Innsbruck sieht diesbezüglich keine Probleme, obwohl auch sein Tauschsystem noch in der Experimentierphase ist.

Jedenfalls kann schon heute jeder teilnehmen, vorausgesetzt es gibt ein Tauschsystem in der Nähe. Man zahlt eine geringe Aufnahmegebühr und einen jährlichen Mitgliedsbeitrag -letzterer kostet 100 Schilling bei Wiener LETS - für die Verwaltungsarbeit und sagt, was man anbietet und was man benötigt.

Das System der organisierten Nachbarschaftshilfe ist nicht gewinnorientiert. Die Tauschsystem-Zentrale faßt Angebot und Nachfrage der Teilnehmer auf einer Liste zusammen und teilt sie regelmäßig an dieselben aus. Diese können nun untereinander die Leistungen erbringen und mit Gutscheinen honorieren. Die Gutscheine werden in der Zentrale auf den einzelnen Konten verbucht.

Über die Höhe des Wertes, auf den der Gutschein ausgestellt wird, müssen sich die Tauschpartner einigen. Manche Betreiber sehen in dieser Marktsituation, nämlich im Aushan-deln-Müssen einen weiteren Vorteil des Tauschsystems; es führe zur Kommunikation beim Güter- und Leistungsaustausch und es komme zu einer Bewertung der eigenen Leistung. Andererseits regen manche Tausch-Systeme ihre Teilnehmer an, Leistungen nach einem einheitlichen Stundensatz zu verrechnen. Eine Stunde Babysitten ist dann gleich teuer wie eine Stunde Geigenunterricht.

Grundsätzlich ist jeder Teilnehmer eingeladen, Leistungen zu konsumieren, auch wenn er über kein Guthaben verfügt. So kann auch jeder Neueinsteiger sofort Leistungen nachfragen; er hat zinsenfreien Kredit. Alle Teilnehmer können die Konten einsehen: das gewährt eine soziale Kontrolle und diese soll das Tauschsystem vor Überschuldung einzelner Konten schützen.

Muß man dafür Steuern zahlen? In Frage kommen Umsatzsteuer und Einkommensteuer. Die Umsätze in der erweiterten Nachbarschaftshilfe sind gering. Im Begelfall übersteigen sie die Steuerfreibeträge nicht. Jedenfalls ist es Aufgabe der Teilnehmer, sich um Steuer- und auch Haftungsfragen zu kümmern..

In den angelsächsischen Ländern entstehen LETS aus vorwiegend pragmatischen Überlegungen. Im deutschsprachigen Raum sind die Tauschsysteme stärker ideologisch begründet. Das Talent-System im schweizerischen Aarau, einem Vorreiter für Tauschsysteme im deutschen Sprachraum, beruft sich auf Silvio Gesell (1862-1930), einen anarchistischen Wirtschaftstheoretiker, und auf Helmut Creutz, den Autor des Buches „Das Geldsyndrom". Creutz kritisiert die bestehende, nicht mehr verkraftbare Geld- bzw. Zinswirtschaft. Aus dieser Einsicht und um diese Entwicklung hintanzuhalten, verrechnen die Tauschsysteme weder bei Guthaben noch bei Krediten Zinsen. Manche Systeme hingegen verrechnen negative Zinsen auf Guthaben: das heißt, diese verlieren dadurch im Laufe der Zeit an Wert. Und das ermuntert die Teilnehmer, oft zu tauschen und keine großen Guthaben anzusammeln.

In Osterreich haben sich bisher nur wenige - insgesamt sind es keine 1.000 Leute - gefunden, um LETS und Talent-Experimente zu gründen oder daran teilzunehmen. Die wenigen glauben nicht, daß sie die bestehende geld- und zinsenorientierte Wirtschaft wesentlich ändern werden. Und doch könnten diese Systeme ein praktischer Beitrag sein zu der nun verstärkt geführten Diskussion um neue Wirtschafts- und Arbeitsmarktmodelle. Die Teilnehmer sind Idealisten, und sie suchen eine Alternative zur bisherigen Geldwirtschaft. Sie suchen und finden in den kleinen Zirkeln eine Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Oder sie halten es mit der Zeitbörse, einem ähnlichen Tausch-System, in Kassel (Deutschland): „Tun Sie das, was Ihnen Spaß macht und was Sie können, um das abgeben zu können, was Sie hassen!"

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