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Die Schuldigen und die Verantwortlichen

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Nach den poesievollen Reiseführern der guten alten Vorkriegszeit ist Sarajewo (von Serai-Palast, persisch-türkisch) ein „Diamant in einer Fassung von Smaragden, eine Perle des Balkans oder die Kapitale des k. u. k. Morgenlandes“. Für die Einheimischen ist Sarajewo die „Stadt der Paläste, in deren Zwetschkengärten die süße Bülbül (Nachtigall) flötet“.

Der 537 bis 682 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Ort ist — so zu lesen — amphitheatralisch aufgebaut, er liegt, anmutig gebettet, zwischen grünen Hängen in einer offenen Mulde an beiden Ufern der schäumenden Miljacka, über die acht Brücken — darunter die Kaiser-, Lateiner- und die Ziegenbrücke — führen. Der 1650 Meter hohe Trebevic schaut in die Fenster der großen k. u. k. Amts- und Schulgebäude, in die Fenster der stattlichen Kasernen und der Türkenhäuser mit ihren Haremsgittern.

Gleich Innsbruck, dem Sarajewo ähnlich ist, führt die Stadt an der Miljacka eine Brücke im Wappen. Und viele der hundert Minaretts, die die bosnische Hauptstadt zieren, stehen in üppigen Gärten, mit einem Wort, es ist ein viel gepriesener Ort: „O Stadt, wo Orient und Okzident küssend ihre Lippen berühren.“

Der Sehenswürdigkeiten gibt es genug: Die in der Welt des Islams viel gerühmte Chusrev-Beg-Moschee (erbaut zu Allahs Lob und zu Ehren ihres Stifters). Die serbischorthodoxe Kathedrale (erbaut aus Opfergeldern russischer Glaubensbrüder). Die erzbischöfliche Kathedrale (erbaut aus Opfergeldern österreichischer und deutscher Katholiken).

Im Vorhof der oben genannten Moschee zeigt man dem Fremden das in Stein gemeißelte, offiziell vorgeschriebene Maß der alten türkischen Elle (Archin). Und der berühmte Bazar? Er ist der Mittelpunkt des Handels und besteht aus 60 Gäßchen, er „bietet an Markttagen mit der sich um die Stände drängenden Landbevölkerung in ihrer zum Teil türkischen Tracht und den zahlreichen Tragtieren ein überaus malerisches Bild ganz orientalischen Gedränges“.

Der Bürgermeister der Stadt, Fe-him eff. (effendi) Curcic, amtiert in dem an der Miljacka gelegenen Rathaus. Das stattliche Gebäude im neumaurischen Stil ist ein Unikum. Dreieckig im Grundriß, gelbrot gestreift — in den bosnisch-herzego-winischen Landesfarben —, mit einer maurisch-byzantinischen Säulenhalle ausgestattet, wurde es von einem Wiener Ringstraßenarchitekten entworfen. Der Bau ist das Ergebnis eines zweijährigen Studienaufenthaltes in Ägypten und sollte die Verwendbarkeit orientalischer Stile für moderne Amtsbedürfnisse demonstrieren.

Am Appelkai — Appel war ein k. u. k. General — steht nicht nur das buntscheckige Rathaus, sondern auch eine Reihe anderer österreichischer Repräsentativbauten, darunter die Oberrealschule, das Hauptpostamt, die Lehrerbildungsanstalt, das Kreisgericht und die österreichisch-ungarische Bank. Als Garnisonsort hatte Sarajewo keinen schlechten Ruf, jedenfalls einen besseren als Czernowitz oder Tar-now.

Die elektrische Tramway verkehrt in Intervallen von 15 Minuten, der Taxtarif für Fiaker vom Herrenklub zum Hauptbahnhof beträgt 1.40 Kronen bei Tag und 1.60 Kronen bei Nacht. Die Straßen.sind nächtlicherweile mit 500 Bogenlampen ä 16 Normalkerzen beleuchtet. Es gibt ein Hotel „Zur Kaiserkrone“, ein Hotel „Radetzky“, ein „Goldenes Lamm“; es gibt aber auch „Hans“ (Lexikon: Han = Herberge, persischarabisch) mit serbischen Namen: „Slavuj“, „Novi“, „Morica“, behagliche Wiener Cafes mit Zeitungen aus aller Welt neben Zuckerbäckereien voller Balkansüßigkeiten. In den Kaffeehäusern wird politisiert, am hitzigsten bei den Kaffeesiedern ä la turka, den Kafanas. Beim Zuckerbäcker Vlajnic löffeln die Herren Gymnasiasten ihr Eis, himmeln die Serviererin Erna an, wenn sie sich nicht gerade gegenseitig die Rocktaschen betasten. („Glaubst du mir jetzt, daß ich eine Bombe drinnen habe?“) „O Stadt...“

Der „Statthalter“ seiner Apostolischen Majestät des Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn residiert im Konak, dem „europäisierten“ Türkenpalast, sein Amtslokal ist im Theresiengaßl, der Kaufmännische Verein tagt in der Franje Josipa ulica, die Musli-manska centralna banka ist in der Franz-Joseph-Straße, das Choleraspital in der Pofilici, der Landtagskanzleidirektor Kapitanovic Hilmi-beg logiert in der Kecina ulica, und das Kloster der heulenden Derwische findet man auf der Loga-vinahöhe.

Sarajewo hat 52.872 Einwohner, verfügt über 380 Telephonanschlüsse, davon 280 für Banken, Handel und Gewerbe. 17 für militärische Dienststellen (Nr. 111 Hengstendepot). Eine Nummer der Polizei wird man vergeblich im Telephonverzeichnis suchen, das heißt, der Polizeiarzt verfügt über die Nummer 23. — „O Stadt...“

So viel über das pittoreske Sarajewo, wie es sich im letzten Friedensjahr, 1914, dem Touristen darbot und wo es sich, alles in allem genommen und dem Vernehmen nach, beschaulich leben ließ. Doch der Augenschein trügt. Lassen wir uns daher von einem intellektuellen Bosnier, dem Nobelpreisträger Ivo Andric, die Kehrseiten zeigen. Er sieht die Dinge anders, ganz anders. Das abgeschmackte Wort von der Stadt der Begegnung ist nicht von ihm. Für Andric ist die Grenzscheide zwischen den Kulturen, zwischen dem Morgen- und dem Abendland eine finstere und blutige Linie.

Damit sei nicht gesagt, daß sich dort Christen und Moslims prügelten und die Köpfe einschlugen. Kreuz und Halbmond vertrugen sich in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg einigermaßen. Die finstere Front ging mitten durch das Lager der christlichen Brüder: Katholisch oder orthodox, das war ein Kampfruf, kroatisch oder serbisch ein anderer. Unter den Jüngeren entstand ein Gefühl der Gemeinsamkeit, welche allerdings Jahre bedurfte, um sich zu festigen.

Spinnefeind waren sich auch Sokoln und die zugereiste Beamtenschaft, und diese samt den k. u. k. Offizieren schieden sich wieder in zwei Gruppen, in eine kaiserlichösterreichische und eine königlich-ungarische. Die Anhänger der Fran-

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