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Frankreich: Wohnen ist Luxus

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Im Ausland löst es jedesmal Erstaunen aus, wenn ein in Paris arbeitender Pressekorrespondent mitteilt, daß er in einer leidlich guten Wohngegend der Stadt gezwungen ist, für eine Zweizimmerwohnung mit Bad und Zentralheizung — auf deutsche Währung umgerechnet — zwischen 800 und 1000 D-Mark Miete zu zahlen. Im Regelfall muß dieser Summe noch eine Vermittlungsgebühr und eine „Garantie“ von jeweils einer weiteren Monatsmiete hinzugerechnet werden.

Der für den Wohnungsbau zuständige Minister Pisani hat in diesen Tagen erklärt, daß bis zum Jahre 1970 ein völliger Mietliberalismus erreicht werden müsse. Fachleute sind davon überzeugt, daß es in erster Linie auf die Blockierung der Mieten nach dem ersten Weltkrieg zurückzuführen ist, daß Frankreichs Wohnungsbau eine Verspätung um 25 Jahre aufweist. Im Laufe der letzten zehn Jahre sind die Preise für Eigenwahnungen um 200 Prozent, die Mieten um 100 Prozent, die Baukosten jedoch nur um 50 Prozent gestiegen. Das Mißverhältnis wird mit der Hausse der Bodenpreise und mit der Erhöhung der verschiedenen fiskalischen Abgaben erklärt.

Überangebot zu unerschwinglichem Preis...

Erstaunlicherweise fällt ein ungeheuer starker Bedarf an Wohn- raum mit einem Überangebot an Wohnungen zusammen, die wegen der hohen Preise von den Interessenten nicht erworben werden können. In Marseille leben 20.000 Personen unter primitivsten Verhältnissen in Lagern, darunter sind 7000 Kinder. Bei den Bewohnern handelt es sich vornehmlich um Nordafrikaner, Zigeuner und sozial „nicht anpassungsfähige“ Elemente. Begreiflicherweise klagen die Ärzte über eine besonders hohe Kindersterblichkeit. Dieses Beispiel steht nicht vereinzelt da; ähnliche Zustände werden aus den meisten französischen Großstädten gemeldet.

Bis in die jüngste Zeit schossen Wohnpaläste, die manche als „Wohn- maschinen“ bezeichnen, wie die Pilze aus der Erde. Im Pariser Gebiet standen am 1. Juli 1965 27.100 und am 1. Juli 1966 36.400 Wohnungen zur Verfügung, darunter befanden sich 8738 bezugsfertige neue Wohnungen. Der Wohnüngsvorrat im Jahre 1963 reichte für den Verkauf in sechs Monaten. Heute reicht der Vorrat für den Verkauf in 19 Monaten aus, so daß es länger dauert, eine Wohnung zu verkaufen, als sie zu erbauen. In einem Jahr ist die Zahl bezugsfertiger Wohnungen von 13 Prozent auf 25 Prozent gestiegen. Dabei handelt es sich nicht etwa allein um Luxuswohnungen, sondern um Wohnraum aller Kategorien. Diese Krise ist besonders fühlbar in Paris. Es folgen Nizza, Marseille, Nantes, Toulouse und Grenoble. Allein in dieser Stadt stehen gegenwärtig 4000 Wohnungen zum Verkauf.

Algerienfranzosen verdarben die Preise

Die Baukrise ist weiterhin durch einen Rückgang der Bauanträge — wöchentlich durchschnittlich um sechs Prozent weniger als 1965 — und der Beschäftigten im Bau. In der Bauindustrie sind heute vier Prozent weniger beschäftigt als im Oktober 1965. Die Architekturbüros und Maklerunternehmen bauen laufend ihren Personalstab ab.

Die akuten Schwierigkeiten wurden durch den Zustrom von einer Million Algerienfranzosen im Jahre 1962 ausgelöst. Der starke Bedarf, der sich damals in einer Zeit starker Rückstände im Wohnungsbau und eines inflationären Klimas manifestierte, löste eine starke Überhitzung aus. In der Periode 1962 bis 1965 verdreifachte sich der freie Wohnungsbau. Mit staatlicher Unterstützung wurden in diesem Zeitraum nur 30 Prozent zusätzlicher Wohnungen gebaut. Der Preis für einen Quadratmeter Wohnraum verdoppelte sich im Zeitraum 1964/65.

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