Briefe, Beute, Babylon

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Diplomatische Raffinessen und Tausende Briefe: Robert Koldewey organisierte für die Deutsche Orientgesellschaft die Grabungen in Babylon. 100 Jahre später widmet ihm Kenah Cusanit ihren ersten Roman.

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Diplomatische Raffinessen und Tausende Briefe: Robert Koldewey organisierte für die Deutsche Orientgesellschaft die Grabungen in Babylon. 100 Jahre später widmet ihm Kenah Cusanit ihren ersten Roman.

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Um eine Verbindung zwischen Babylon und Berlin herzustellen, muss man nicht die gehypte deutsche Fernsehserie schauen. Babylon steht in Berlin. Im Pergamonmuseum finden sich zumindest Teile, etwa das berühmte rekonstruierte Ischtartor. Wundern sollte man sich darüber auch heute noch. Immerhin wurden Anfang des 20. Jahrhunderts Abertausende Ziegelstücke vom über 3000 Kilometer entfernten, im heutigen Irak liegenden Babylon nach Berlin transportiert. Von 1899 bis 1917 leitete Robert Koldewey für die Deutsche Orientgesellschaft die Grabungen. Er wollte zehn Quadratkilometer Areal, die gesamte Stadt, ausgraben und freilegen. Er musste sich aber auch Gedanken darüber machen, wie im Fall eines ausbrechenden Krieges das dort gefundene Material gerettet werden könnte. Welche Vereinbarung mit dem Osmanischen Reich getroffen werden müsste, um zu verhindern, dass die Engländer der Schätze habhaft werden. Die Sorge um einen bevorstehenden Krieg durchzieht Briefe und Notizen jener Zeit.

1913 tummeln sich jene Staaten, die sich bald in Krieg gegeneinander befinden werden, als Konkurrenten auf den Ausgrabungsstätten: Engländer, Franzosen und Deutsche. Die Altorientalistin und Ethnologin Kenah Cusanit erzählt in ihrem Romandebüt "Babel" von nationalen Interessen, bürokratischen Eigenheiten, diplomatischen Raffinessen, ausgeklügeltem Chiffrensystem und schafft unter Einbeziehung von vielen geschichtlichen Quellen (die sie leider in keinem Anhang nennt) einen komplexen Text, spannend trotz wenig klassischer Handlung.

Orient und Okzident

Anfangs liest man über einen ziemlich unpässlichen Koldewey, der sich über seinen Assistenten Buddensieg ärgert. Koldewey holt sich Liebermeisters "Grundriss der inneren Medizin", nicht aber um das Buch zu lesen oder die Ratschläge des Arztes gar zu befolgen. Cusanit beschreibt den Grabungsleiter als sehr eigen und nützt seine Unpässlichkeit, beinahe essayistische Reflexionen einzuflechten: Über Fotografie und Schrift und die Nachträglichkeit von beidem, über den Babel-Bibel-Streit, der damals ausbrach, als durch die Ausgrabungen bewiesen wurde, dass sich die biblischen Geschichten schon in früheren Kulturen fanden, und der Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft und Glaube, Wissenschaft und Religion neu aufwarf.

Auch die Methodiken der Wissenschaft stehen auf Koldeweys Prüfstand. Reflektiert werden diverse Unterschiede von Orient und Okzident. Etwa in der Medizin: Dort stehe die Frage im Vordergrund, was man falsch gemacht hat, hier die Frage, was passieren könnte. Vergrößert der Arzt Liebermeister den Schmerz womöglich sogar, indem er Dinge in Sprache auf Dauer konserviert, indem er sie verschriftlicht?"Diese Schrift band ein loses Gefühl so lange in Kategorien und Unterkategorien und Unterunterkategorien ein, bis eine auf 26 an sich bedeutungslose Zeichen geschrumpfte Sprache fähig war, es ausgerechnet als Bild einer Krankheit für alle gut lesbar wiederzugeben. Weshalb schrieb Liebermann nicht: Nehmen Sie eine Zwiebel und häuten Sie diese. Weshalb schrieb er nicht: Fangen Sie an, Bedeutung abzubauen, statt aufzubauen."

Weltbild, Wahrnehmung und Praktiken werden in teils syntaktisch sehr komplexen Sätzen befragt -und Sinn und Bedeutung. Woraus ergibt sich etwa der Sinn der Stadt: aus den Ziegeln, der Architektur? Oder aus Tontafeln und Schriften, wie der Philologe meint. Und was, wenn die Forscher zwar alle bekannten Keilschriftzeichen beherrschen, "die Zeichen in Silben und Wortzeichen übertragen" und "Subjekt, Objekt, Prädikatsverband" identifizieren können - sich die Bedeutung eines Textes in der Übersetzung dann aber trotzdem nicht erschließt? "Metallarbeiter Stadttor gefiel dem Volk des Stadttors." Was heißt das?

Die Autorin ist nahe an den historischen Fakten. So, wie sie die Figuren in Beziehung zueinander darstellt, erfüllen sie wie erfundene Romanfiguren ihre Aufgabe: allen voran Koldewey, dann die Forscherin und Archäologin Gertrude Bell, der Assistent Buddensieg und Walter Andrae, der per Brief nachfragt, wie er einen Dampfer instand setzen kann -die Korrespondenz darüber dauert Monate. Manchmal ist es die Art und Weise, wie historische Quellen (Cusanit lässt nicht erkennen, was historisch, was fiktiv ist) zusammengestellt sind, die Komik erzeugt, manchmal das Wörtliche: So schreibt Julius Jordan aus Uruk: "Wir haben 35 Stelen gefunden, einige schön und gut erhalten, aber blödsinnig schwer. Soll man sie nun wegen der 5-8 Zeilen Inschrift, die draufsteht, in Kisten packen und mitnehmen, oder soll man sie liegen lassen, wo sie sind, und zuschütten?"

Kein Überblick mehr

Die Frage nach der Rechtmäßigkeit dieser großen kolonialen Kulturgutverschiebung wird dabei nur angedeutet, Zweifel darüber plagen keinen der Protagonisten, auch nicht Fragen nach blinden Flecken in ihrer Sicht auf andere Kulturen. Aber die Zeit ist im Umbruch, und Koldeweys Wunsch nach Überblick wird im Zeitalter des Relativität nicht zu erfüllen sein, selbst wenn er vom Impressionismus einiges lernen kann. "Das Impressionistische zeigte von Nahem nichts, das man sehen konnte. Es zeigte, was der visuelle Sinn war: ein Sinn, der sich distanzieren musste, um wahrnehmen zu können, ein Sinn, der distanziert ist."

Babel Roman von Kenah Cusanit Hanser 2019 272 Seiten, geb., € 23,70

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