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Opfer des 20. Juli 1944

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ADOLF REICHWEIN. Eine pädagogisch-politische Biographie. Von James L. Henderson. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. 222 Seiten. Preis 14.80 DM

Ein Engländer, ein guter Kenner Deutschlands und seines Erziehungswesens, hat Adolf Reichwein, dem nach dem 20. Juli 1944 hingerichteten Idealisten lauterster Art, eine Biographie gewidmet. Sie ist in ihrem Kern eine Londoner Dissertation über die politischen und sozialen Spannungen der Weimarer Republik. Henderson schrieb das Buch, weil sich noch kein deutscher Biograph gefunden hatte, diesem Pädagogen, der heute ein Sechziger wäre, ein literarisches Denkmal zu setzen, obwohl heute zwei pädagogische Akademien nach ihm heißen, kurioserweise eine in Halle, die andere in Oldenburg. In schönes, klares Deutsch übertragen, hält sich das Buch von Tadelsucht ebenso ferne wie von schaler Lobrede, ist überhaupt von unbefangener Offenheit und Suchen nach Wahrheit getragen.

Adolf Reichwein, aus einem hessischen Lehrerhaus stammend, kam aus den Reihen der Jugendbewegung, war Soldat und Student und wirkte später in der Volksschularbeit in Jena, bis ihn der preußische Kultusminister Becker zu seinem Referenten berief. Später wurde ihm eine Professur an der Pädagogischen Akademie in Halle übertragen. Dem Kreisauer Kreis als einer der konstruktivsten Köpfe angehörend, starb er 1944, des Hochverrates beschuldigt, durch Henkershand. Reichwein war eine mitreißende Persönlichkeit, dynamisch, kühn, umschaffend, ein Feind der verschlingenden Städte, stets großen Zielen offen, um jedes Bruders Wohl besorgt. Er trampte durch Amerika, flog eine Sportmaschine, war Matrose. 1932 trat er, der sich selbst als „religiösen Sozialisten“ bezeichnete, der Sozialdemokratischen Partei bei. Wie Leber, Haubach, Mierendorff und Ernst von Harnack entsprach Reichwein auch im persönlichen Zuschnitt nicht dem Bild, das man sich gelegentlich von einem „Sozialdemokraten“ gemacht hat, etwa ein „im Verneinen befangener, geistig eng behauster Werker“. Die kriegsfreiwilligen Studenten von 1914 und späteren Stoßtruppführer (man kann zu ihnen die altersgleichen Remarque, Jünger und Zuckmayer zählen) waren von starkem, auf eine Lebenserneuerung gerichteten Tatwillen beseelt. Sie kämpften gegen überaltete Bindungen, bejahten die Republik und suchten aus tiefer Einsicht her nach neuen, den damaligen Nöten gerecht werdenden staatlich-gesellschaftlichen Lösungen. Ja, sie standen auch zu der eigenen Partei in Opposition, in der sich händelsüchtige Bürgerei breitgemacht hatte.

Adolf Reichweins Kampf ging um eine neue Kollektivordnung, die der Freiheit und der selbstgewollten Bindung des einzelnen genügend Raum zur Entfaltung läßt. Er realisierte es in seiner kleinen „pädagogischen Provinz“, in seiner „gestaltenden“ Volksbildungsarbeit, in der Arbeiter und Studenten zusammenkamen. Politik war für ihn kein hohes Spiel, sondern das Feld des Kampfes für die Moral. (Tatsächlich ging keiner der Genannten in die Emigration, sie starben alle an der Schafottfront.) Reichweins Bemühen, Pädagogik und Politik zu vereinen und den Bau einer neuen sozialen Ordnung von unten, von der Pädagogik her, zu beginnen, konnte nur Teilwerk bleiben. Es ist in Deutschland durch ein Jahrhundert zuviel versäumt worden, als daß die Eroberung des Staates durch und für den Geist möglich gewesen wäre

Ob aber Reichweins Vermächtnis fruchtbar wird, ist angesichts der Entwicklung zu bezweifeln. Denn die in der Bundesrepublik immer stärker werdende Restauration ersetzt durch ihre vertikalen Konzentrationen erneut die Kameradschaften, die außerhalb der normalen gesellschaftlichen Bindungen entstanden waren.

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