Maria Stepanova: "Geschichte wurde bei uns nie Geschichte"
Erstmals in ihrem Leben wurde das Wort „russisch“ entscheidend, erzählt die Dichterin Maria Stepanova. Sie sieht die Rhetorik des Zweiten Weltkriegs wiederbelebt.
Erstmals in ihrem Leben wurde das Wort „russisch“ entscheidend, erzählt die Dichterin Maria Stepanova. Sie sieht die Rhetorik des Zweiten Weltkriegs wiederbelebt.
Maria Stepanova, Jahrgang 1972, ist mittlerweile nicht nur in Moskau ein Star. Die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Lyrikerin wurde mit „Nach dem Gedächtnis“ 2021 für die Shortlist des Internationalen Booker Prize nominiert. Seit ihrem mittlerweile in zahlreiche Sprachen übersetzten erzählerischen Großessay über ihre russischen und jüdischen Vorfahren erschienen auf Deutsch drei Gedichtbände: „Der Körper kehrt wieder“ (2020), „Mädchen ohne Kleider“ (2022) und „Winterpoem 20/21“ (2023). Kürzlich erhielt die derzeit am Wissenschaftskolleg Berlin arbeitende Autorin den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In ihrer auf Englisch gehaltenen Festrede stellte Maria Stepanova die für eine Schriftstellerin besonders schmerzhafte Frage: „Was aber tun, wenn die eigene Sprache zum Sprachrohr des Wahnsinns und der Barbarei wird?“
DIE FURCHE: Was bedeutet es für Sie, heute – in Zeiten des Krieges – eine russische Dichterin zu sein?
Maria Stepanova: Für mich wurde das Wort „russisch“ erstmals in meinem Leben entscheidend. Ich habe das nicht selbst entschieden, es ist eine Folge der katastrophalen Umstände. Ein Teil meiner Vorfahren sind Russen, ein Teil Juden. Worüber ich früher immer nachdachte, war das Verhältnis zu meiner jüdischen Herkunft. Als ich sieben war, wurde mir erklärt, was Judentum bedeutet. Ich muss nicht erklären, dass das in den 1970er und 1980er Jahren in Russland – gelinde gesagt – eine schmerzhafte Geschichte war. Mein russischer Teil war immer ganz unproblematisch. Jetzt hat sich alles umgekehrt. Was heute schmerzt, ist mein Russisch-Sein. Ich muss alles neu bewerten. Eine „russische Dichterin“ zu sein, bedeutet jetzt für viele Jahre – wenn nicht für immer – den Verlust des persönlichen Lebens.
DIE FURCHE: Inwiefern Verlust des persönlichen Lebens?
Stepanova: Ich war immer stolz darauf, dass ich mit meinem Schreiben nur mich selbst repräsentierte. Ich nahm kaum an großen Ausstellungen und Buchmessen teil, in denen sich die russische Kultur groß präsentierte. Mir war immer wichtig, für mich und unabhängig zu sein. Seit der ungeheuerlichen Invasion in die Ukraine ist klar: Jeder, der ein Buch von mir zur Hand nimmt, sieht mich in erster Linie als russische Schriftstellerin, alles andere kommt danach.
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