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Ärztliche Ethik

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Es ist sicher kein Zufall, daß in den letzten Jahren häufiger die Fragen der ärztlichen Ethik in öffentlichen Vorträgen und in der Literatur erörtert worden sind. Es liegt hier offensichtlich ein über das rein Berufliche hinausgehendes öffentliches Interesse vor, und ein solches ist in der Natur des Verhältnisses zwischen Arzt und Patienten, also zwisdien Hilfsbedürftigkeit und Hilfsbereitschaft begründet, wie auch in der Erwägung, daß jeder in die Situation der Hilfsbedürftigkeit geraten kann und es ihm dann nicht gleichgültig sein kann, welche Haltung der Arzt zu den Grundfragen der ärztlichen Berufsethik einnimmt.

Das große öffentliche Interesse an diesen Fragen hat in Frankreich zu einer gesetzlichen Kodifikation der ärztlichen Berufspflichten geführt, zu dem mit öffentlich- reditlicher Wirkung ausgestatteten „C ode de ddontologie mždicale“1). Auf der anderen Seite hat der Nürnberger Ärzteprozeß, der ein erschütterndes Bild irregeleiteter ärztlicher Pflichtauffassung offenbarte2), auch bei uns die Öffentlichkeit alarmiert und das Interesse an den Fragen der ärztlichen Berufsethik lebhaft gefördert.

In einem groß angelegten Vortrag während der Medizinischen Woche in Salzburg 1947, hat Burghard Breitner in besonders beachtenswerter Weise sich mit der Problematik der ärztlichen Berufsethik auseinandergesetzt. Breitner erwähnt eingangs, daß das Thema auf medizinischen Tagungen lange nicht mehr erörtert worden ist, und gibt dem Wunsche Ausdruck, es möge sich bald „der beherrschende Gestalter dieses großen Kulturgutes“ finden ).

Das ist allerdings eine Erkenntnis, an der man heute nicht mehr vorbeigelangt: daß es sich bei der ärztlichen Ethik in der 1 at um ein großes Kulturgut der Menschheit handelt; um ein Kulturgut, das leider ernstlich bedroht war und Gefahr lief, völlig verschüttet zu werden und nunmehr nadi neuer Fassung und dauerhafter Konservierung ruft. Aus der Erkenntnis dieser Gefährdung und der Bedeutung des unersetzlichen Verlustes erklärt sich das nunmehr besonders aktuell gesteigerte Interesse an diesem Fragengebiet, das seinem Wesen nach weit mehr ist als ein bloßer Berufskodex oder standesmäßiger Ehrenkomment („Standesordnung“).

Breitner erkennt deutlich, daß die Beziehung Arzt — Patient auf dem „Ur- phänomen des Mitleides" basiert. Er nennt dieses Phänomen eine „Auflehnung gegen das biologische Gesetz“. Das wäre es allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die von Nietzsche begründete, durch Darwins These vom „Kampf ums Dasein“ in der Biologie zur Herrschaft geführte Lehre vom „Überleben des Tüchtigen", wirklich das „biologische Gesetz“ des Menschen darstellen würde — eine Ansicht, die bekanntlich in Heraklit ihren Vorläufer hat. Dann hätte Breitner recht, wenn er das ärztliche Ethos definiert als „Rebellion gegen die Allmacht des biologischen Gesetzes". Wie aber noch des Näheren zu zeigen ist, handelt es sich da um eine weitverbreitete Fehlauffassung vom Wesen der Biologie, die — im Namen des „Bios“ — zu jenen verhängnisvollen Verirrungen führen mußte, die wir noch zu erörtern haben.

So wird es allerdings verständlich, wenn Breitner „Ethos“ und „Bios“ in einem Gegensatz sieht und fragt: „Soll das biologische Gesetz (das Recht des Stärkeren, das — vermeintlich — Schutz des Lebenstüchtigen unter Ausrottung des Hinfälligen fordert) die Norm des Daseins bestimmen oder soll es überwunden und in dieser Überwindung der Sinn der Menschwerdung erblickt werden?“

Hier ist eine grundsätzliche Klarstellung geboten. Breitner sieht das Wesen der Ethik rein pragmatisch von der Tat aus, ohne die dem richtigen Handeln notwendig vorangehende richtige Erkenntnis zu würdigen, die dem Sein entspricht („agere sequitur esse“): Für ihn ist die ärztliche Ethik und das Arzttum kein „logisches“ Problem; „Fragen des Ethos sind keine Fragen der .Wahrheit'.” Demgegenüber sei darauf hingewiesen, daß ohne den Primat des Logos niemals ein echtes Ethos denkbar ist4).

Dankenswert bekennt sich Breitner zu den bleibenden Grundlagen der ärztlichen Ethik, wie sie im Eid des Hippokrates ihre erste klare und unvergängliche Formulierung gefunden haben. — Die Frage, ob es eine besondere ärztliche Ethik gibt, erscheint ihm historisch eindeutig positiv beantwortet. Nun kann aber diese Frage nicht generell, nicht ohne ein bedeutsames „distinguo“ bejaht werden: „nego“ — das heißt es gibt insofern keine spezifische ärztliche Ethik, als der Arzt den allgemeinverbindlichen sittlichen Normen in gleicher Weise unterworfen ist wie jeder andere Mensch; „concedo“ — das heißt es gibt eine spezifische ärztliche Ethik, aber nur insofern, als es über die allgemeinverbindlichen Normen hinaus für den Arzt besondere Standes- und Berufspflichten gibt, deren Wahrung die Grundlage des besonderen Vertrauens bildet, das ihm der einzelne und die Öffentlichkeit bereitwillig gewähren. Die Lehre von den besonderen Berufspflichten ist gerade der Inhalt dessen, was in romanischen Ländern als Deontologie (Pflichtenlehre) bezeichnet zu werden pflegt.

Di Verletzung gerade dieser Pflichten ist es, die das Vertrauen zum Arzt aufs Tiefste ersdiüttert. Das Beispiel der E u- t h a n a s i e hat am erschreckendsten gezeigt, wohin es führt, wenn der Arzt Sonderrechte im Sinne einer Herrschaft über Leben und Tod in Anspruch nimmt, sei es auch nur im vermeintlichen Dienste der „Lebensgesetze“, des „Bios“, und damit das „Menschenbild der modernen Medizin" so tief zerstört hat (Büchner)6).

Breitner erkennt ganz klar, daß in dem Augenblick, da der Arzt nicht mehr als unbedingter Verteidiger des Lebensrechtes auftritt, die „Entweihung des ärztlichen Ethos“ das Vertrauensverhältnis zerstört: man erblickt im Arzte nicht mehr den Schützer, sondern empfindet vor ihm Furcht. Hier zeigt sich die unveräußerliche Grundlage jeder wahren ärztlichen H umanitas — und daraus ergibt sich von selbst die eindeutige und unveränderliche Stellung der ärztlichen Ethik zur Frage nicht nur der Euthanasie, sondern auch aller damit zusammenhängenden Verletzungen des Lebensrechtes (Abortus, Sterilisation usw.).

Die gedankenreiche Arbeit wirft viele Probleme auf, ohne sie im einzelnen zu lösen. Sie überläßt dem durch sie angeregten Leser eine Fülle von Gedankenarbeit, für deren richtige Lenkung es gestattet sei, noch auf einige andere Arbeiten neuerer Zeit hinzuweisen.

Wie grundlegend der ganze Fragenkomplex das Wesen des Arztseins selbst berührt, geht in geradezu schmerzlicher Klarheit hervor aus einem Dokument, das gleichsam eine auf den Kopf gestellte ärztliche Ethik offenbart, eine ärztliche Berufsmaxime, die das Wesen ärztlicher Ethik,

ärztlicher „Existenz" schlechthin in ihr Gegenteil verkehrt.

Unter dem Titel „Das Diktat der Menschenverachtung“ ist von Alexander M i t- s c h e r 1 i c h und Fred M i e 1 k e eine Sammlung amtlicher Dokumente über den Nürnberger Ärzteprozeß herausgegeben worden. Das darin der Öffentlichkeit vorgelegte authentische Dokumenten- material ist um so erschütternder, als es sich bei den Angeklagten nicht ausschließlich um irregeführte Fanatiker ohne ärztliche Bedeutung handelte, sondern zum Teil um Ärzte von hohem wissenschaftlichem Range 6).

Es ist bemerkenswert, daß unter den Angeklagten auch Professor Dr. Joachim Mrugowsky aufgezählt wird als Chef des Hygieneinstituts der Waffen-SS, Oberster Hygieniker und SS-Oberführer. Mrugowsky ist der Autor eines 1939 erschienenen Büchleins über „Ärztliche Ethik“, das bereits die allgemeine geistige Grundlegung zu jener Verkehrung wahrer ärztlicher Ethik legte, die schließlich in Nürnberg vor dem Riditerstuhl einer internationalen ärztlichen Berufsethik stand.

) Als solche werden -a. a. angeführt: Univ- Prof. Dr. E p p i n g e r, Wien, Dozent Dr. B e i g 1 b 8 c k, Wien, Prof. Dr. H a n d 1 o s e r, Chef des Wehrmachts-Sanitätswesens, Prof. Dr. P. R o s t o c k, Vorstand der Chirurgischen Univ.-Klinik Berlin; Prof. Dr. Joachim Mrugowsky, Chef des Hygieneinstituts der Waffen-SS, Oberster Hygieniker und SS-Ober- führer.

In seiner „Ärztlichen Ethik“ wendet sich Mrugowsky 7) einleitend zunächst gegen den Grundsatz, daß es sittliche Normen gebe, die überall und zu allen Zeiten sowie jedermann gegenüber Geltung beanspruchen; mit anderen Worten gegen ein absolutes, über dem Menschen stehendes Sittengesetz. Die Leugnung einer absoluten, über dem Menschen stehenden und daher allgemein verpflichtenden Sittennorm ist ja der Grundirrtum jeder „relativen“ Ethik.

Mrugowsky erklärte schon 1939 offenherzig:

„Nidit mehr das Christentum, das alle Völker umspannt, enthält die oberste Maxime unseres Handelns. Wir finden sie überhaupt... nidit mehr in einer weltumspannenden Lehre oder Geistesrichtung. Wir kennen auch keinen universellen Menschen mehr, ... der den schwarzen, gelben, und weißen Mensdien Bruder nennt und zu ihnen im gleichen Verhältnis steht wie die Kinder derselben Eltern zueinander. Es ist wohl das größte Geschenk an uns gewesen, daß wir heute die naturgegebenen Unterschiede sehen können und daß wir nur das als gleichberechtigt anerkennen, was rj einem Volke gehört .. Dieses Volk ist uns heut heilig. Es ist an die Stelle von Lehren getreten, die früher verehrt wurden und die nunmehr versunken sind. So erkennen wir heute alles das für schlecht, was ihm abträglich ist. Der Glaube an unser ewiges Volk ist unsere Weltanschauung und ihm ru- liebe haben wir den Glauben an eine zweitausendjährige Lehre verlassen."

1)Le Code Džontologie medical e. Cahiers Laennec, VII. annče. n. 4, 1947.

2) iviVC herlich und Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung. Aus der deutschen Ärztekommission beim amerikanischen Militärgericht in Nürnberg (Leiter: Dozent

Dr. Alexander Mitscherlich). Eine Dokumentation vom Prozeß gegen 23 SS-Ärzte und deutsche Wissenschaftler. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1947.

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