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Die Wahrheit vor Gericht

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Noch immer ist die Frage nicht leicht zu beantworten, was die Athener bewogen haben mag, den Sokrates vor Gericht zu teilen und zu verurteilen. Den Vorwurf, daß er nicht an die Götter glaube und Unrecht zu Recht mache, hat er in seiner Verteidigungsrede entkräftet; dieser Vorwurf war offenbar Vorwand einer tiefgegründeten Gegnerschaft. Wahres — damit begann er seine Verteidigung — haben die Gegner überhaupt nicht gesagt; darauf aber kam er immer wieder zurück, daß er die Wahrheit rede; daß seine Sache die Wahrheit sei; daß er nicht lüge; daß er die Wahrheit reden müsse und das eben bedeutete für ihn, daß er die Sache des Gottes, dem er gehorchte, „über alles andere setzte“. Die Menschen glaubten weise zu sein, und er suchte ihnen zu zeigen, daß sie sich darin täuschten; er tat es wahrlich nicht, um über sie zu triumphieren, hielt er sich doch nur darin für weise, daß er sein Nichtwissen einsah. Seine Aufgabe war es, die Menschen von ihrem Dünkel zu befreien: er „half dem Gott“, indem er den Menschen zeigte, daß sie nicht weise sind. Dies aber erregte tödlichen Haß.

Mit Sokrates stand die Wahrheit selber vor Gericht: ein Mensch, der wahrhaftig war, der nichts anderes wollte als die Wahrheit tun, und zwar aus Gehorsam gegen die Gottheit. Das Große an der Verteidigung des Sokrates und an seinem Tode ist dieses ruhige Zeugnis für die Wahrheit; er sucht keinen Ruhm, keinen Triumph; er kann gar nichts anderes sein, nichts anderes wollen, als wahrhaftig sein, die Menschen aus dem Wahne eingebildeten Glücke lösen; dafür opfert er die Ordnung seines Hauswesens, setzt er seine ganze Lebenszeit ein; seine letzte Bitte nach seiner Verurteilung is, seinen Söhnen es zu verweisen, „wenn sie sich dünken, etwas zu sein, aber nichts sind“.

Vielleicht ist es zum erstenmal geschehen, daß die Wahrheit auf diese Weise, in solcher Reinheit vor Gericht stand; wir sind dem Evangelium schon ganz nahe; die äußerste Vorsicht des Sokrates im Gehorsam gegen das Zeichen des Gottes: das Wissen, daß dieses ihm nicht widerstanden hat, als er des Morgens vom Hause ging zum Gericht; der ausdrückliche Verzicht, den Richter zu bitten; das stille, männliche Selbstbewußtsein dessen, der die Wahrheit redet, und zwar zu allen, ohne Unterschied, und damit, durch den Gehorsam gegen den Gott, dem Staat den größten Dienst leistet, gewähren uns schon den ersten Blick auf das Erscheinen der Wahrheit in ihrer göttlichen Majestät vor Pilatus. Wie nahe ist das Wort, daß „nicht Reichtum die Tugend, sondern aus der Tugend der Reichtum und alle menschlichen Güter insgesamt“ entstehen der Verheißung, daß denen alle andere gegeben werde, die zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit suchen! Denn um die rechten Güter, um den Reichtum des Weisen, nicht aber um die Schätze, die Rost und Motten verzehren, ging es dem Sokrates, der in gelassener Freude dem Tode entgegensah — mochte der Tod nun Schlaf bedeuten oder das Leben mit Auserwählten, mit Palamedes und Aias, „und wer sonst noch unter den Alten eines ungerechten Gerichtes wegen gestorben ist“; Sokrates war überzeugt, ein Recht zu haben auf die Speisung im Prytaneion; aber er war auch bereit, sich eine bescheidene Geld- trafe zuzuerkennen, sofern er Geld hätte; „denn davon hätte ich weiter keinen Schaden“. In vollkommener Freiheit, unerschütterlich in seinem Gehorsam gegen den Gott, der ihm auferlegt hatte, zu tun, was er getan, erlitt er den Tod für die Wahrheit, für ihre Geltung unter den Menschen, für die Befreiung der Menschen, des Staates vor der Lüge. Er ging aus der Welt in dem Wissen, daß seine Richter „von der Wahrheit schuldig erklärt wurden der U

ürdigkeit und Ungerechtigkeit“. So siegte die Wahrheit mit seinem Tode, durch sein Zeugnis, wenn auch noch auf eine verborgene, gleichsam vorbereitende Weise: es war die Vorbereitung des weltumwändelnden Sieges von Golgatha.

Die antike Tragödie verhallte an der Stelle, wo der Fluch sich löst, die tragische Notwendigkeit sich erschöpft, wo Segen aus Fluch wird, der Halbgott leidet für die Menschen und die Möglichkeit der Erlösung, wo die Gestalt eines Erlösers ge

, vor dem Gericht zu Athen aber hatte sich noch Erhabeneres begeben:, ein Mensch war der Wahrheit, das heißt ihrem Vollzüge, so nahegekommen wie kein anderer, von dem wir wissen, er war in dem Grade, in dem es Menschen möglich ist, und in den Schranken seiner geschichtlichen Stunde zur Wahrheit geworden. Die Welt hat ihn verurteilt in angemaßtem Rechte zu diesem Urteil, welches Recht in seiner Lügenhaftigkeit wohl offenbar ist, aber als Gewalt nicht aufgehoben wird: nichts ist der Welt in solchem Maße entgegen, als die Wahrheit von ihrem Nichtwissen, ihrem Dünkel und Unwert, als das Dasein eines Menschen, der diese Wahrheit lebend dartun muß, nicht um seinetwillen —

hörte sie auf, Wahrheit zu sein sondern um der Wahrheit willen, als göttlichen Auftrag.

Das untragbare Ärgernis war erschienen: Sokrates sagte den sich weise Dünkenden, daß sie nichts wußten, den Reichen, daß sie arm waren, den im Leben Gefangenen, wie fragwürdig das Leben ist, wie bedenkenswert sein Ende. Die Antwort war die Verurteilung zum Tode. Aber die Geschichte hat keine größere Szene, als das Auftreten der Wahrheit vor dem Tribunal, und es geht wohl kein Mensch über die Erde, der nicht in einer bestimmten, einmaligen Stunde in diese Szene gerufen wird. Nachdem aber Gott sie bestanden hat, wieviel mehr Hoffnung sollten wir haben, sie

tehen, als Sokrates, der sie bestand vor dem unbekannten Gott, nicht glaubend, aber wissend vom Nichtwissen, im starken Frieden seines Gewissens! Neben uns steht ein anderer, der König ist; die Forderung hat sich nicht gewandelt, sie ist noch ernster geworden; es ist der ganze Todesernst des Daseins, dessen schwerstes Problem, daß wir der Wahrheit uns an

, daß wir versuchen sollen, in den Schranken unserer armen Kraft, Wahrheit zu sein. Und der furchtbare Widerspruch wird nicht erschüttert werden, daß die Welt zwar nur besteht aus der Macht der Wahrheit und gehalten von ihr; daß aber, wer die Wahrheit tun will, unaufhaltsam gedrängt wird aus der Gemeinschaft der Menschen, aus der Welt.

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