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Man kommt nicht los von ihm

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GESAMMELTE WERKE. Von Bertolt Brecht. Stücke — Gedichte — Prosa — Schriften. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 1967. Dünndruckausgabe in acht Bänden, Leinen. DM 350. — ; Werkausgabe ln 20 Bänden, Paperback. DM 96. — .

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GESAMMELTE WERKE. Von Bertolt Brecht. Stücke — Gedichte — Prosa — Schriften. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 1967. Dünndruckausgabe in acht Bänden, Leinen. DM 350. — ; Werkausgabe ln 20 Bänden, Paperback. DM 96. — .

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„Er ist ein wunderliches Gemisch von Zartheit und Rücksichtslosigkeit. Von Plumpheit und Eleganz, von Verbohrtheit und Logik, von wüstem Geschrei und empfindlicher Musikalität. Er wirkt auf viele abstoßend; aber wer einmal seinen Ton begriffen hat, der kommt schwer los von ihm. Er ist widerwärtig und reizvoll, ein sehr schlechter Schriftsteller und ein großer Dichter und unter den jüngeren Deutschen ohne Zweifel der, der am meisten geniehafte Züge trägt.“ Lion Feuchtwan- ger schrieb dieses Urteil über Bertolt Brecht in der „Weltbühne“ 1928, drei Jahre bevor es mit der „Dreigroschenoper“ zum ersten Welterfolg Brechts kam. Als umstrittener und streitbarer Repräsentant eines politisch-sozialen Engagements der Bühne, als Begründer und Theoretiker des „epischen Theaters“ und als Experimentator mit neuen Sprech- und Darstellungsformen zählt Bertolt Brecht heute nicht nur zu den Großen der deutschen Gegenwartsdichtung, sondern der Weltliteratur. Zum Gedenken seines 70. Geburtstages am 10. Februar — Brecht starb 1956 in Berlin — ehrt ihn der Suhr- kamp-Verlag mit einer Gesamtausgabe seiner Werke.

Die textidentische Doppelausgabe

— die 8244 Seiten der Stücke, Gedichte, Prosa und theoretischen Schriften wurden bei der Dünndruckausgabe auf acht Bände, bei der Werkausgabe auf 20 Bände verteilt

— ist in Zusammenarbeit mit dem Brecht-Archiv in Ost-Berlin und mit Elisabeth Hauptmann entstanden, die die Erfahrungen und Kenntnisse aus ihrem lebenslangen Umgang mit Brecht und seinem Werk in dieser Ausgabe eingebracht hat, so daß Brecht-Forscher wie Brecht-Liebhaber mit gleichem Vertrauen dieser Edition ihr Vertrauen schenken können. Denn es scheint verfrüht, jetzt schon (zwölf Jahre nach Brechts Tod) nach der historisch-kritischen Ausgabe zu rufen: Die Sammlung und Sichtung der Briefe, Tagebücher, Notizbücher und Tonbandprotokolle, die Datierung, Verifizierung und Rektifizierung der Texte und ihrer Varianten wird voraussichtlich noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen, wie nach einer ersten Kommissionssitzung von germanistischen Fachgelehrten und Brecht-Experten verlautete. Und dann wird der große Veränderer Brecht mit seiner immensen Fülle von Lesarten und Varianten den philologischen Editoren noch größte Schwierigkeiten bereiten und die Ausgabe gigantische Ausmaße annehmen.

Brecht, dem es mehr an der Arbeit als am vollendeten Werk, mehr am Problem als an der Lösung, mehr am Weg als am Ziel lag, korrigierte, veränderte und überarbeitete seine Texte immer wieder. Die Geschichte der Brecht-Ausgaben von 1922 bis 1956 ist die Geschichte von Textkorrekturen und Bearbeitungen, was die Auffindung der letzten Fassung ungemein erschwert. Die jeweilige letzte Fassung der Texte, also die, an der Brecht nach dem 14. August 1956 nichts mehr ändern konnte und die — laut Versicherung der Herausgeber und des Redaktionsstabs

— nach sorgfältigen Forschungen eruiert wurde, ist das editorische Ziel dieser vorliegenden Ausgabe. Sie bringt also in den Anmerkungen nicht Lesarten und Varianten, sondern lediglich werkgeschichtliche Fakten. Da gibt es jedoch so inter-

essante Dokumentationen wie den Briefwechsel Brechts mit dem Süddeutschen Rundfunk aus dem Jahre 1950, in dem er die Titeländerung des Hörspiels „Die Lindberghs“ (1928/29) in „Der Ozeanflug“ anordnete, die „Ausmerzung des Namens Lindbergh im Verlauf des ganzen Stückes“ verfügte, einen Prolog vorschrieb und alle diese Änderungswünsche begründete.

Die Herausgeber haben sich jeden Kommentars, jeder Einführung und jeder Interpretation enthalten, ihre Arbeit galt nur der „Darlegung eines gesicherten Textes“, in den eine Reihe von Erstdrucken (das Erstlingsstück des 15jährigen Brecht „Die Bibel“, acht Fragmente, 360 Seiten theoretischer Schriften, 27 Gedichte, „Der Tui-Roman“) aufgenommen werden konnten. Bei jedem Verzicht auf Interpretation dieses politisch so engagierten und umstrittenen Brecht (was der Leser eben aus diesem Grund gerne akzeptiert), würde doch vielleicht ein zusammenhängender Lebensabriß für das Verständnis und die Erarbeitung mancher Texte eine Hilfe bedeuten.

Feuchtwanger hat recht: Man kommt schwer los von ihm. Hat man sich gerade an den aggressiven Tonfall eines Stückes gewöhnt, erschüttert die Zartheit eines Gedichts, hat man sich noch nicht ganz von der Derbheit eines Songs erholt, überraschen amüsante Theaterkritiken oder ein gepflegter Disput über das epische Theater. Das Werk Brechts i in seiner Gesamtheit fasziniert und scheint voll von Widersprüchen, die i ihr Schöpfer für überaus fruchtbar - hielt und die er selber in sich ver- t körperte: „Wen immer ihr suchet, , mich werdet ihr nicht finden“ — , aber wer sich einmal auf die Suche gemacht hat, muß in ständiger Aus- i einandersetzung und Beschäftigung i mit diesem außerordentlichen Werk I bleiben.

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