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Ihre Muse hieß Bertolt Brecht

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Der österreichischen Erstaufführung der „Pioniere in Ingolstadt“, die vor kurzem in Salzburg stattfand (siehe FURCHE Nr. 14), folgte nun die österreichische Erstaufführung der „Pioniere in Ingolstadt“ bei den Komödianten in Wien. Und das war eine ebenso echte Erstaufführung wie die in Salzburg. Doppelt hielt in diesem Fall wirklich besser, denn in Salzburg und Wien wurden zwei grundverschiedene Fassungen gespielt. In Salzburg die zuletzt entstandene, authentische - in Wien dafür die wesentlich bessere.

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Der österreichischen Erstaufführung der „Pioniere in Ingolstadt“, die vor kurzem in Salzburg stattfand (siehe FURCHE Nr. 14), folgte nun die österreichische Erstaufführung der „Pioniere in Ingolstadt“ bei den Komödianten in Wien. Und das war eine ebenso echte Erstaufführung wie die in Salzburg. Doppelt hielt in diesem Fall wirklich besser, denn in Salzburg und Wien wurden zwei grundverschiedene Fassungen gespielt. In Salzburg die zuletzt entstandene, authentische - in Wien dafür die wesentlich bessere.

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Es gibt außerdem noch eine dritte Fassung, und zwar die zu allererst geschriebene, die 1928 in Dresden urauf- geführt wurde. Bertolt Brecht gefielen Stück und Autorin, und er sorgte dafür, daß die „Pioniere“ auch in Berlin im Theater am Schiffbauerdamm gespielt wurde, das wenige Monate vorher unter dem Jubel bei der Uraufführung der „Dreigroschenoper“ gebebt und wo es gerade einen handfesten Skandal gegeben hatte: Das Stück „Giftgas über Berlin“ von Lampel war am Morgen nach der Uraufführung verboten worden, um das Haus nicht leerstehen lassen zu müssen, wurde unterdessen die „Krankheit der Jugend“ von Ferdinand Bruckner gespielt, Marieluise Fleißer kam gerade zurecht, dem Theater zur nächsten Uraufführung - und zum nächsten Skandal zu verhelfen.

Bertolt Brecht nahm sich der Autorin und ihres Stückes an. Marieluise Fleißer war 27 Jahre alt, ein leises, schüchtern wirkendes Mädchen, das eigentlich kein vordergründig politisches Stück im Sinn gehabt hatte, sondern eines über die, wie man heute sagen würde, Deformation des Menschen in bestimmten Situationen. Aber diese Situationen eben gaben dem Stück in der Weimarer Republik seine eminent politische Dimension. Es ging nämlich darum, was in einer Kleinstadt passiert, wenn die Pioniere in die Stadt marschieren, um eine Brücke zu bauen, vor allem, was mit den Dienstmädchen passiert, unter ihnen vorzugsweise wiederum mit den weniger geschickten, denen, sie es sich nicht zu richten wissen, weil sie die Liebe ernst nehmen. Von Marieluise Fleißer wird das als Auswirkung dessen gesehen, was mit den Soldaten passiert, auch wenn gerade kein Krieg ist. Druck wird nach unten Weitergegeben - bis zu jenen, die keinen mehr weitergeben können. Sie werden zum Gespött. Es ist ein Stück von der wahren „Liebe der Soldaten“, einer in den seelischen Komponenten auf Leere, Kälte und Unterdrückung reduzierten Beziehung.

Bertolt Brecht nahm sich dieses Stückes an. Zeitgenossen schildern die Beziehung Marieluise Fleißers zu Brecht als totale Abhängigkeit. Brecht sorgte dafür, daß die Regie einem Mann anvertraut wurde, der mehr ein Strohmann war, und nahm die Sache selbst in die Hand. Er hat sehr energisch im Manuskript herumfuhrwerkt, dabei aber erreicht, daß gerade der innerste Gehalt des Stückes, das, was die Fleißer eigentlich hatte sagen wollen, deutlicher, schärfer zum Ausdruck kam. Unnötige Handlungsschnörkel, die nur als Ballast wirkten, wurden gestrichen.

Allerdings ließ er sich auch einige Kraßheiten einfallen, die dazu führten, daß unmittelbar nach der Premiere der Berliner Vize-Polizeipräsident auf den Theaterdirektor zutrat und sagte: „Glauben Sie, daß wir so etwas dulden? Das verbiete ich wieder!“ So daß die zweite Fassung der „Pioniere in Ingolstadt“ eigentlich die dritte ist, die sich von der zweiten textlich lediglich durch Weglassung eines handgreiflichen Satzes (den hierzulande eh keiner verstünde) unterscheidet. Dieser unter unmittelbarem Brecht-Einfluß in dreiwöchiger Zusammenarbeit entstandene Text hegt der Druckveröffentlichung des Stückes aus dem Jahr 1929 zugrunde und wird in Wien gespielt.

Die Salzburger Fassung hingegen entstand 1968 (wohl auch als späte Emanzipation der Fleißer von Brecht) und enthält, was Brecht herausgestrichen hat - einen Feldwebel, der, nachdem er ohnehin schon einmal ins Wasser gefallen und wieder herausgeklettert ist, noch einmal hineinfällt und ersäuft, gestohlenes Holz und so weiter-

Seitenlinien der Handlung, die unnötig sind und mehr ablenken als verdeutlichen. Auch die Sprache wurde nun, vier Jahrzehnte später, „perfektionierend“ überarbeitet, was dem Stück ebenfalls nicht bekommen kann, denn so, wie es war, war die Unvollkommenheit der Sprache Ausdrucksmittel, waren die „Pioniere“ Vorahnung (und Vorbild) eines von Kroetz zur letzten Perfektion getriebenen „Theaters der Sprachlosigkeit“.

Die Komödianten haben also ein nicht nur diesem Theater entsprechendes Stück, sondern vor allem die richtige Fassung gewählt. Von der Regie (Conny Hannes Meyer) kann man zwar nicht, wie einst Emst Josef Aufricht von der Brechtschen, sagen, sie sei „so leise, daß man keine bemerkte“ gewesen, dafür schält sie genau jene Elemente dieser sozialen und psychologischen Zustandsschilderung heraus, um die es Marieluise Fleißer in erster Linie gegangen sein dürfte. Zwar setzen nicht, wie einst im Bühnenbild von Caspar Neher, Pioniere realistisch Stück für Stück eine Brücke zusammen (was bei den Komödianten technisch und vom Spielstil des Theaters her ohne weiteres möglich wäre), es ist auch logisch, daß dies unterblieb, denn im Mittelpunkt der Aufführung steht Heidi Hagl als Dienstmädchen Berta, und trotz allen vom Pionier Karl (in der Fassung von 1968: Korl) an sie weitergegebenen Druckes, trotz allen Pionierschweißes, allen Strafexerzie- rens mit echten Balken (das 1929 die rechtsorientierten Kritiker so empörte), auch trotz aller, der Deformation der Soldaten gegenübergestellten Deformation der ortsansässigen Klein- und Spießbürger (Georg Nenning spielt den Fabian Benke, in der 1968- Fassung Unertl, atemberaubend richtig) ist dieses Stück, jetzt und hier, war es aber vielleicht auch damals, vor allem die klinisch perfekte Studie eines Mädchens, das Liebe verlangt, wo keine zu erwarten ist, und im selbstmörderischen Bestehen darauf zugrunde geht. Also auch: Ein Stück über eine bestimmte Form von Psy- cho-Masochismus.

Manfred Lukas-Luderer spielt den Pionier Karl, der eine Frau erst dann akzeptiert, wenn er sie „zum Fetzen“ gemacht hat, mit einem absurden Anflug von Warmherzigkeit - und auch das stimmt, nicht nur im allgemeinen, sondern auch (im besonderen) unter Berücksichtigung der glaubwürdig überlieferten Tatsache, daß in dieser Figur Fleißersche Erfahrungen mit Brecht verewigt sind. Wobei sich die Frage erübrigt, ob Marieluise Fleißer Brecht schon kannte, als sie an der ersten Fassung der „Pioniere“ schrieb. Vermutlich war dieser Karl eben ihr Typ, dem auch Brecht wenigstens zum Teil entsprach, oder, genauer, ein Pol eines ambivalenten psychologischen Schemas, denn geheiratet hat Marieluise Fleißer später einen Mann, der eher Fabian Benke entsprochen haben soll (der unsympathischer gezeigt wird, als dem Text entsprochen hätte).

Das alles ist in diesem Text, in diesen oft grammatikalisch in der Luft hängenden, kunstvoll unvollkommenen Dialogen und Dialogfetzen enthalten, als Möglichkeit angelegt. Herausgeholt hat es die Regie, haben es die Darsteller, unter denen Helga lllich in der Rolle der 1929 von Lotte Lenya gespielten Alma nicht vergessen werden darf, hat es vor allem aber Heidi Hagl als Hauptdarstellerin.

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