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VORSICHT VOR ORIGINALEN

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Der Sprachgebrauch weist in zwei Richtungen: „Original“ als die Vorlage einer etwaigen Kopie, als der Urzustand eines Werkes der bildenden Kunst gegenüber seinen späteren mechanischen oder künstlerischen Reproduktionen. Dagegen der schrullige, kauzige, vielfach auch als eigentümlich und sonderbar — wie eben der Sonderling — empfundene Mensch, der stets zu überraschen weiß, wohl darum, weil er selbst immer ein wenig überrascht ist. Beide Begriffe konzentrisch in der Bedeutung von „ursprünglich“ streben in den von ihnen abgeleiteten Eigenschaftswörtern deutlich auseinander. Das Objekt, das eigenständige Werk anerkennen wir als „originär“ und zögern nicht, einen einfallsreichen Kopf, das Subjekt, „originell“ zu nennen. Wo von einer „originellen“ Arbeit die Rede ist, deutet dies auf Ihren Urheber und nicht auf das Werk. Anderseits vermag uns ein „originärer“ Mensch bloß von der Tatsache seiner Geburt zu überzeugen, während wir dem „originalen“ Kunstwerk gern seine Echtheit bestätigen.

Deutlicher werden die Verhältnisse noch, wenn wir die entsprechenden Gegensatzpaare zu unseren Begriffen bilden: Die Reproduktion und die Kopie sind schwerlich mit dem schrulligen Original in Zusammenhang zu bringen. Dieses mag einen Doppelgänger haben oder von einem Imitator nachgeahmt oder karikiert werden; unser Sprachgefühl sträubt sich jedoch, dort von einem Doppelgänger zu sprechen, wo uns die Reproduktion eines Werkes das unerreichbare Original nur schlecht ersetzt oder gar die Kopie von unbekannter Hand als Imitator Lionardos zu bezeichnen. Dennoch erweist sich die ursprünglich gemeinsame Wurzel unserer Begriffe auch hier, wie Parallelbildungen belegen. Bleiben wir also bei den Gegensätzen!

Beide, der Doppelgänger wie die Reproduktion, stehen zu ihrem Original nur in einem losen, mehr äußerlichen Verhältnis; sie gleichen ihm, ohne es eigentlich nach„bilden zu wollen, ja noch mehr, sie stehen in direktem Gegensatz zu ihm als eigene Wirklichkeit, Gegenwirklichkeiten, nur durch die Nabelschnur der Ähnlichkeit mit dem Vorbild verbunden.

Anders der Imitator und die Kopie. In ständiger Kommunikation mit dem Original sind sie nur durch dieses zugänglich und verständlich. Die gezirkelte Nachbildung der geringsten Geste, die Neigung des Kopfes, der Gang werden in mühsam erworbener Technik fetischhaft übernommen. Letzte Absicht dabei bleibt die völlige innere Gleichheit mit dem Vorbild. Bekannt aus vergangener Zeit ist die Nachahmung Franz Josephs I. Gewisse Bartformen Sozialrevolutionären Zuschnitts legitimierten Ihre Träger als Vertreter einer unbürgerlichen und damit fortschrittlichen Partei. An ihre Stelle tritt heute — zugleich Berufsfetisch — der Van Gogh-Bart. Lederwestenkult, Farah-Diba-Frisur, Schmollmund weisen bereits auf das Gebiet der Mode, die hier ebenfalls eine ihrer Wurzeln haben mag. Entsprechend dazu die Kopie als eine gewerbsmäßig betriebene, bewußte oder unabsichtliche Aneignung von Stil- und Ausdruckselementen eines erfolgreichen Originals oder der kritiklose Nachvollzug ganzer Schulen in Epochen des Verfalls.

Der Doppelgänger dagegen weiß zumeist nichts von dem Original, dem er gleicht. Flüchtig und beschränkt auf wenige fließende Merkmale, gewährt ihm seine Ähnlichkeit genügend Raum zu Eigenem, Unabhängigem, zur Freiheit der Grimasse. Darum ist seine Ebenbildlichkeit auch nur eine bedingte, mittelbare, nachgedunkelt in den Jahren eines persönlichen Geschickes. Und gerade damit der Reproduktion verwandt, die immer ein bereits gedeutetes Original ist. Farbgebung, Aufstellung der Kamera, Blickwinkel, Beleuchtung geben ihr unverkennbar Selbständigkeit gegenüber dem Vorbild, das, uneingeschränkt in seinen Dimensionen, sich zunächst als wenig zugänglich erweist. Die Reproduktion erschließt sich uns leichter, vor allem: sie ist auf Abruf zur Hand. Dies meint Malraux, wenn er von einem „musee imaginaire“ spricht. Diese dauernde Gegenwart der Kunstwerke aller Epochen in einer Sammlung von Reproduktionen. — Nicht selten jedoch stellt sich die Reproduktion — zumal die künstlerisch wertvolle — als bereits gedeutetes Original vor das betreffende Kunstwerk und verstellt uns so den Zugang zu diesem.

Ich erinnere mich noch des ersten Eindruckes der Laokoon-Gruppe in den Vatikanischen Sammlungen. Ungeduldig und ohne Ortskenntnis war ich durch die Zimmer gelaufen, in der Erwartung, sie an hervorragender Stelle in einem der spiegelnden Säle zu finden. Und dann sah ich sie. Geduckt in das Halbrund eines dämmrigen Raumes, unscheinbar, enttäuschend für mich, der ich jedes Detail an ihr zu kennen glaubte, und kaum halb so groß, als sie in meiner Vorstellung gelebt hatte. Ein Original, das mit seiner Reproduktion nicht mehr übereinzustimmen schien.

Mehrschichtig, schon durch seine Stellung im Raum, versagt sich das Original jeder bereits deutenden Erwartung. Der Sinn von „ursprünglich“ bedeutet hier „unmittelbar“ in lebendiger Begegnung. Es wird sich uns nicht öffnen, sondern in uns hineinwachsen, es springt uns nicht an, wir müssen es nehmen. Nur so werden wir ihm gerecht. Und noch eins: erwarten wir von keinem Original, daß es mit Kirschkernen nach uns schießt, dies ist Sache des Imitators.

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