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Am Beginn der zweiten industriellen Revolution

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Um es gleich vorwegzunehmen, die Gewerkschaften sind nicht grundsätzlich gegen die Automation eingestellt. Dies ist durchaus keine Konzession an die moderne, fortschrittliche, technische Entwicklung. Diese Grundeinstellung, den technischen Fortschritt der Menschheit, einschließlich der Arbeiter und Angestellten, dienstbar zu machen, war die eigentliche Idee, die zur Gründung der freien Gewerkschaften führte.

Als im ausgehenden 18. Jahrhundert erstmalig in England die handwerklichen Werkstätten, insbesondere der Textilwarenerzeugung, in sogenannte Manufakturen (Fabriken) mit arbeitsteiliger, maschineller Produktion umgewandelt wurden, bezahlten die kleinen Handwerker diesen technischen Fortschritt mit der Vernichtung ihrer ohnehin sehr bescheidenen Existenz. In ihrer Verzweiflung zertrümmerten die Weber die neuen Maschinen — Maschinenstürmer — in der Annahme, diese seien an ihrem Unglück schuldtragend.

Seither sind mehr als 150 Jahre vergangen.

Die Arbeiter haben in der Folge gelernt, daß die Maschine tatsächlich ein Helfer der Menschheit sein kann, wenn sie nicht zum Selbstzweck des Besitzers mißbraucht wird. Zu dieser Erkenntnis trugen wesentlich die freien Gewerkschaften bei.

Ihre Gründung war eine Folgeerscheinung der industriellen Entwicklung. Obwohl die mit Dampfkraft betriebenen Fabriken mit wesentlich wehiger Arbeitskräften unvergleichlich mehr produzierten, stiegen Not und Elend für die arbeitende Bevölkerung ins unermeßliche. Lange Arbeitszeiten, niedere Verdienste, Kinderarbeit, hohe Sterblichkeit waren die ersten Auswirkungen des technischen Fortschrittes.

Die Maschine, die Technik wurde dem Arbeiter zum Fluche.

Aus diesen wirtschaftlichen -und sozialen Zuständen erwüchsen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zuerst in England, dann nach Westeuropa übergreifend, die freien Gewerkschaften. Ihr Ziel war es, dem Arbeiter einen Anteil an der erhöhten Produktion zu erkämpfen. Die Gewerkschaften erkannten nur zu gut. die gesteigerte Produktion müsse in einer Sackgasse enden, wenn nicht gleichzeitig der Absatz der erzeugten Waren gesichert wird.

Die Gewerkschaften verlangten daher eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine Erhöhung der Kaufkraft. Diesem Prinzip sind die freien Gewerkschaften im Grunde genommen bis heute treu geblieben. Diesen Standpunkt vertreten die freien Gewerkschaften mit wechselvollem Erfolg seit mehr als sechs Jahrzehnten.

Die Geschichte der letzten 130 Jahre hat zur Genüge gelehrt: der technische Fortschritt wird dann zum Wahnwitz, wenn es nicht gleichzeitig gelingt, die Gesellschaftsordnung dem technischen Fortschritt anzupassen.

Nach Ansicht der freien Gewerkschaften soll die Arbeit kein Selbstzweck sein, vielmehr ein Mittel zum Zweck, zum Wohlstand aller.

Wenn wir den Zeitraum seit der Erfindung der Dampfmaschine, die die erste industrielle Revolution einleitete, bis heute überblicken, muß zugegeben werden, daß sich in der zivilisierten Welt ein Aufstieg von gigantischem Ausmaß vollzogen hat. Freilich wurde dieser Aufstieg aber auch mit unwahrscheinlich hohen Opfern an Blut und Lebensglück von ungezählten Millionen Menschen bezahlt.

Mit der Automation steht die zivilisierte Menschheit am Beginn der zweiten industriellen Revolution.

Hat die erste industrielle Revolution der Menschheit die technische Pferdekraft gebracht, soll die zweite dem Menschen in hohem Maße die Arbeit selbst abnehmen.

Es drängt sich die berechtigte, bange Frage auf: Wird die Automation dem arbeitenden Menschen ein ebenso großes oder gar noch größere Opfer aufbürden als zur Zeit der Maschinenstürmer?

Im Zeitpunkt der ersten industriellen Revolution gab es noch keine Gewerkschaften, aber auch keine Erfahrung der modernen Marktwirtschaft. Wie anders liegen die Dinge heute. So gut wie nichts wird in der modernen Wirtschaft dem Zufall überlassen. Selbst in den typischen kapitalistischen Ländern wird in großen Zügen auf lange Sicht geplant. Erzeugung und Verbrauch werden sorgfältig abgestimmt. Durch das Gallup-System und Marktanalysen wird mit geradezu wissenschaftlicher Exaktheit festgestellt, was gebraucht wird. Dieser und ähnlicher Methoden wird man sich bedienen müssen bei der Einrichtung automatischer Betriebe. Die Gewerkschaften werden die Rolle des mahnenden Gewissens übernehmen- Sie werden sehr darauf bedacht sein, daß der technische Fortschritt nicht zum Bumerang der arbeitenden Menschen wird. Die Gewerkschaften sind davon überzeugt, daß vom Verbrauch her nie eine Stagnation (Produktionseinschränkung) zu erwarten sein wird. Wirtschaftskrisen entstehen stets von der Kaufkraftseite durch die Verteilung des Produktes. Wenn es im Zuge der Automation zu erhöhten Produktionsausstößen kommt, ohne daß gleichzeitig die Konsumkraft durch entsprechende Löhne gesteigert werden kann, wird die Automation statt zum Segen zum Fluch der Menschheit. Dies zu verhindern, gehört zu den vornehmsten Aufgaben der freien Gewerkschaften.

Vor allem wird es auch darauf ankommen, daß die Automation nicht zur vorsätzlichen Zertrümmerung der Gewerkschaften benützt wird.

Eine kleine Anekdote aus der amerikanischen Automobilindustrie soll diesen Gedankengang illustrieren.

Eine große Automobilfabrik richtete kürzlich einen Teil ihrer Produktion nach den Grundsätzen der Automation ein.

Als die vollautomatische Fertigung aufgenommen wurde, lud der Direktor des Werkes den Sekretär der Gewerkschaft der Automobilarbeiter zu einer gemeinsamen Betriebsbesichtigung ein. Als sie so durch die Werkstätten schritten, die Maschinen wie von Geisterhand, ohne Menschen, bedient wurden, fragte plötzlich der Direktor den Sekretär, wo die GewerkSchaft nunmehr ihre Beiträge einkassieren werde. Der Gewerkschaftssekretär blieb stehen, sah sehr nachdenklich auf die Automation und fragte den Direktor, in Anbetracht der ohne Menschenbedienung arbeitenden Maschinen, wem er nunmehr die hier erzeugten Auto verkaufen werde?

Aus diesem Dialog zwischen Fabrikdirektor und Gewerkschaftssekretär ist das Problem „Gewerkschaft und Automation“ aus dem Blickwinkel der Praxis beleuchtet.

Es möge den Verantwortlichen hüben und drüben gelingen, mit dem Segen des technischen Fortschrittes die Menschheit zu beglücken.

Wehe der Zivilisation, wenn es anders kommen sollte.

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