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Digital In Arbeit

Lebensstandard und Lebensinstinkt

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Zeit besitzen ist ein Faktor der Freiheit. So besaßen Zeit und damit Freiheit die Bevorrechtigten der alten Gesellschaft. Sie hatten Zeit und Freizeit allerdings auf Kosten der anderen, der je unteren, die schon seit Aristoteles, 350 Jahre vor Christus, als „Non-pars societa-tis“, als „Nichtmitglied der Gesellschaft“, galten. „Negotium“ und „otium“, Arbeit, schwere Arbeit hier, Ruhe und Muße, Freizeit da, bestimmten weithin die sozialen Unterschiede. In der Antike. Auch im Mittelalter.

Diese Unterscheidung von Arbeits- und Freizeitgesellschaft schien auch die erste Maschine, die Dampfmaschine 1770, nicht ändern zu wollen. Im Gegenteil. Zwar stieg die Produktion von Tag zu Tag. Aber auch eine eigentums-und freizeitlose Arbeiterschaft, das „Proletariat“, das neue Menschentum an der Maschine — ohne Eigentum an dieser. Ja, Eigentum und Arbeit trennten sich völlig in diesem Raum. Als ein soziologisches Gesetz der industriellen Gesellschaft schien zu gelten: Je weniger Eigentum, um so mehr Arbeit! Und je mehr Arbeit, um so weniger Freizeit! Vor hundert Jahren betrug in Baumwollspinnereien Niederösterreichs schon die Arbeitszeit der neunjährigen Kinder zehn, der zwölfjährigen zumeist 13, stellenweise auch 14 Stunden täglich! Erst nach 1870 endeten diese Exzesse. Langsam wurde die Maschine der Gesamtgesellschaft dienstbar gemacht! Christliche und sozialistische Bewegungen allerorts erzwangen den Achtstundentag, die Sonntagsruhe, Urlaub und Erholung. Deutlich zeigte sich die eroberte Freiheit des arbeitenden Menschen — in der Größe seiner Freizeit!

Einen endgültigen Ausgleich von Arbeitsund Freizeitgesellschaft zu erbringen, hat zum Ziel die Supermaschine von heute: die „Automation“, eine fortschreitende Ersetzung der Hand-, aber auch der Kopfarbeit, und dies vielleicht vor allem in der industriellen Fertigung. Roboter erzeugen Roboter und werden von Robotern erzeugt! Sie erbringen Waren, aber nicht nur Waren, sondern auch Freizeiten im Ueberfluß. Damit aber auch Fragen, neue soziale Fragen!

Zunächst droht die Gefahr der Arbeitslosigkeit durch „die Fabriken und Büros ohne Menschen“. Die Entlassung von 2640 Arbeitern.in den Traktorenwerken von Coventry anfangs Juli 1956 wirkte wie ein Fanal. Seitdem steht die „Vollbeschäftigung“ bei allen Automationsfragen im Vordergrund. Die Antworten lauten günstig. Auf Grund einer sozial- und konjunk-turpolitischen Tradition sind hinreichend die Methoden bekannt, soziale Katastrophen aufzufangen.

Wirklich gefährlich im Zeitalter der Automation ist aber nicht die Frage des „arbeitslosen“, sondern die des „arbeitsfreie n“ Menschen; die Frage der „Freizeitgesellschaft“! Schon Hans Kelsen zeigte vor 30 Jahren in seinen Wiener Universitätsvorlesungen über Sozialismus und Sozialpolitik die Schattenseiten totaler Lebensversicherung. Die Menschen werden, rief Kelsen, einmal versorgt mit Brot, Gewand und Dach, dann in sexueller Hinsicht wahre Schlachten liefern. Eine Vorschau davon geben bereits manche Ereignisse in Oesterreich. Sein erschreckender Moral- und Ehezerfall! Die Flucht in das Spektakel, in die Halbwelt der Sinne, in Benzin und Alkohol! Der Lebensstandard scheint über den Lebensinstinkt zu siegen. Daher kamen bei der „Dritten Wiener Sozialen Woche“ des Instituts für Sozialpolitik und Sozialreformen nicht nur Techniker, Nationalökonomen und Soziologen, sondern auch Psychologen und Theologen zu Wort.

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