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Das Undenkbare denken

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Gedanken besonderer Art über die Zukunft macht man sich während eines einwöchigen Seminars im Hudson-Institut in Croton-on-Hud-son, New York. Jeden Tag, von 9 Uhr früh bis 10 Uhr abends, wird den Teilnehmern des Seminars in einem ehemaligen Nervensanatorium strategisch-politisches Zukunftsdenken beigebracht. Die Teilnehmer sind hohe Offiziere des Pentagon und verschiedener Stäbe, hohe Beamte des State Departement, leitende Angestellte großer Firmen (Boeing u. a.), Mitglieder wissenschaftlicher Institute und zwei österreichische Journalisten.

Der Gründer, Leiter und Starreferent des Instituts, Hermann Kahn, von dem der „Spiegel“ behauptete, er hätte „die Gedankengänge der Militärs in Ost und West tiefgreifender beeinflußt als irgendein General während der letzten anderthalb Jahrhunderte“, ist Mathematiker und Physiker. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die verschiedensten Entwicklurngsmög-lichkeiten der Weltpolitik mit wissenschaftlicher Gründlichkeit durchzurechnen. Dabei wagt es Kahn, auch „Undenkbares zu denken“ (wie eines seiner Bücher heißt): Der thermonukleare Krieg wird aus den Betrachtungen keineswegs ausgeklammert oder als Endpunkt aller Überlegungen hingestellt, sondern er steht im Mittelpunkt; wie und wann kann der Atomkrieg ausbrechen? Unter welchen Umständen muß man mit 100 Millionen Toten rechnen, unter welchen mit 500 Millionen? Wenn die Sowjets in einem Überraschungsangriff New York zerstören, wie sollen die USA zurückschlagen — Moskau oder Leningrad oder zehn andere Städte vernichten?

Mit der Geschichte fertigwerden

So schockierend diese Überlegungen auch sein mögen, für Kahn und seine Mitarbeiter sind sie Gegenstand ernster wissenschaftlicher Arbeit. Die einzelnen Problemstellungen (Möglichkeiten und Illusionen einer amerikanisch-sowjetischen Kooperation; China; der Krieg in Vietnam; die Entwicklung Lateinamerikas) werden von den einzelnen Referenten nach verschiedenen Gesichtspunkten behandelt. Einer spricht als gemäßigter Neoisolatio-nist, ein anderer als Interventionist, ein dritter als radikaler Demokrat. Allgemeine Diskussionen schließen sich an. Der Vorzug dieser Methode ist klar; mehrere Standpunkte, mehrere Alternativen werden vorgetragen, es wird versucht, mehrere Möglichkeiten und ihre Konsequenzen genau zu überdenken. Basierend

auf empirisch faßbarem Material (Entwicklung der Bevölkerung, der Wirtschaft usw.) und dessen Projektion in die Zukunft wird das Jahr 2000 in den Blickpunkt gerückt. Die Zukunft hört auf, Objekt von Spekulationen, von Wunschdenken und Träumereien zu sein, sie wird Gegenstand wissenschaftlicher Analyse. „Wir müssen mit der Geschichte fertigwerden, noch ehe sie sich ereignet“ — so formuliert Kahn sein Programm.

Die einzelnen politischen Gegebenheiten werden zu Figuren, die nach bestimmten Spielregeln — nach den Spielregeln der Realität — auf dem Schachbrett der Weltpolitik nüchtern hin und her geschoben werden. Jede Variante wird auf ihre Effektivität hin geprüft. Mag diese Methode der wertfreien Gegenüberstellung realistischer Alternativen zielführend sein oder nicht; sie offenbart jedenfalls ein so großes Maß an Nüchternheit und Wissen, wie es weder dem Klischee des „stillen“ noch dem des „häßlichen“ Amerikaners entspricht.

Realistischer Optimismus

Das ist letztlich ein beruhigender Gesichtspunkt, der einen realistischen Optimismus rechtfertigt: daß die stärkste Demokratie der Welt trotz ihrer offenkundigen Schwächen und ihrer eingestandenen und un-eingestandenen Ratlosigkeit Methoden au entwickeln versteht, die die Zukunft der USA und der ganzen Welt nicht dem Zufall, nicht irgendwelchen Außenseitern in Ost und West überlassen, sondern realistische Wege in eine Zukunft des wachsenden Friedens und des wachsenden Wohlstandes aufzeigen.

1835 schrieb Alexis de Tocquevüle den Satz: „Ich habe Amerika nicht nur betrachtet, um eine — übrigens durchaus legitime — Neugierde zu befriedigen; ich wollte Belehrung schöpfen, die wir nutzen können.“ Welche Belehrung kann man aus dem Amerika des Jahres 1967 schöpfen? Die USA haben uns keine patentierten Lösungen und keine Garantien zu bieten. Die Vereinigten Staaten zeigen dem Besucher nur eines mit besonderer Deutlichkeit: daß alle pro- und antiamerikanischen Klischeevorstellungen nicht der Wirklichkeit entsprechen; und daß das Land zwischen Atlantik Und Pazifik, zwischen Kanada und Mexiko sehr stark und sehr verwundbar ist — verwundbar wegen der gewaltigen sozialen Probleme, denen es sich gegenübersieht, und stark auf Grund der intellektuellen und materiellen Reserven, die dem Land noch zur Verfügung stehen.

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