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Das Völkerrecht ist relativ...

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Seit Monaten füllen die Schlagzeilen der Weltpresse Meldungen über Entführungen. Sie werden fast schon in allen Kontinenten begangen, haben unterschiedliche Motive und verschiedene Formen. Nach den Flugzeugentführungen erschüttern nun Erpressungsversuche durch Diplomatenraub das festgefügte Gebäude optimistischer Völkerrechtler. Und Namen wie Cross (in Kanada), Spreti (in Guatemala), Bucher (in Brasilien) und Beihl (in Spanien) stehen als Zeugen für eine neue, gefährliche Terrorform.

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Seit Monaten füllen die Schlagzeilen der Weltpresse Meldungen über Entführungen. Sie werden fast schon in allen Kontinenten begangen, haben unterschiedliche Motive und verschiedene Formen. Nach den Flugzeugentführungen erschüttern nun Erpressungsversuche durch Diplomatenraub das festgefügte Gebäude optimistischer Völkerrechtler. Und Namen wie Cross (in Kanada), Spreti (in Guatemala), Bucher (in Brasilien) und Beihl (in Spanien) stehen als Zeugen für eine neue, gefährliche Terrorform.

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Die früher übliche Art der völkerrechtswidrigen Entführung war die Entführung von Menschen aus fremdem Hoheitsgebiet. Man kann die Frage aufwerfen: Gibt es überhaupt außerhalb des Hoheitsgebietes eines Staates eine völkerrechtsgemäße Entführung durch diesen Staat oder dessen Angehörige auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates? Die Frage ist zu verneinen, solange zum Wesen des Staates im völkerrechtlichen Sinne seine Souveränität gehört, mag die Souveränität als Merkmal des Staates auch heute abgeschwächt und durch Zwischen- und Mischformen eingeschränkt sein. Wenn man dennoch von völkerrechtswidriger Entführung spricht, so mehr zur Unterscheidung von einer nach innerstaatlichem Recht (zumeist) verbotenen Entführung (in der klassischen Form der Entführung einer Frau, die noch minderjährig ist, durch einen Mann) oder auch der ebenso verbotenen Freiheitsberaubung eines Erwachsenen mit Entführung (Menschenraub), Entführung ist also so gut wie immer und nach der Rechtsordnung aller Staaten strafgesetzlich verboten, die Bezeichnung „völkerrechtswidrig“ dient nur der Herausstellung der Tatsache, daß eine Entführung zugleich auch ein Delikt nach Völkerrecht sein kann.

Die herkömmliche Art völkerrechtswidriger Entführung ist jene Verletzung der Souveränität eines unabhängigen (souveränen) Staates, bei welcher ein anderer Staat oder von ihm abhängige Organe Menschen, deren sie habhaft werden wollen, aus dem fremden Hoheitsgebiet gewaltsam oder mit List entführen und unter ihre Botmäßigkeit bringen. (Gegenüber Protektoraten oder besetzten Gebieten kann die Besat-zungsmacht eine solche Entführung völkerrechtlich durchaus erlaubterweise vollführen, wie Elmar F. Bauer in seinem Standardwerk „Die völkerrechtswidrige Entführung“, Berlin, Duncker & Humblot, 1968, dargestellt hat). Die Pflicht, die territoriale Souveränität der anderen Staaten zu achten, verbietet es jedem Staat, im Gebiet eines fremden Staates gegen dessen Wülen hoheitlich tätig zu werden. Die „klassische“ Entführung war aber seit jeher die Entführung von Menschen, deren ein Staat habhaft werden wollte, auf dem Hoheitsgebiet eines fremden Staates. Entgegen einer vielleicht verbreiteten Meinung haben sich viele Staaten, und keineswegs nur Diktaturstaaten, gegen dieses völkerrechtliche Gebot wiederholt vergangen. In Mitteleuropa dürfte, wenn man von den Zwergstaaten absieht, wohl nur Österreich sich bisher noch nie des Delikts der völkerrechtswidrigen Entführung schuldig gemacht haben. Selbst die Bundesrepublik Deutschland hat erst vor kurzem aus dem Korridorautobus von Salzburg nach Lofer, der durch jahrzehntelange völkerrechtliche Übung den Charakter eines fluktuierenden österreichischen Hoheitsgebietes erlangt hat, den Inzwischen in München freigesprochenen Südtirol-Terroristen Dr. Norbert Burger herausgeholt, um ihn vor ein deutsches Gericht zu stellen. Das ist eine von Staats wegen unternommene völkerrechtswidrige Entführung gewesen, so wie die ebenfalls bereits vorgekommene Verhaftung von Passagieren der Korridorzüge Innsbruck—Lienz durch italienische Polizeiorgane. (Die Extraterritorialität dieser Korridorzüge und -autobusse ist in völkerrechtlichen Verträgen festgelegt.) Vollends ist die Schweiz geradezu ein klassisches Entführerland, so demokratisch ihre Ordnung im Inneren auch sein mag. Immer wieder hat die Schweiz auf Nachbarterritorium Personen festgenommen, deren Aburteilung durch ein Schweizer Gericht ihr aus Gründen der nationalen Sicherheit notwendig erschien. Nach dem zweiten Weltkrieg sind die Fälle Burri (Lindau) und Weh (Feldkirch) mehr als bekanntgeworden, Fälle, in welchen es der Eidgenössischen Polizei nur noch um die Bestrafung von Delikten gegen die schweizerische Sicherheit während der Herrschaft des Nationalsozialismus im Deutschen Reich und nicht mehr um eine Prävention ging. Deutsche Polizei entführte 1960 mitten aus Österreich (Groß-Gmain) einen gesuchten Autodieb. Der bayrische Polizist Brandner, der die Entführung durchgeführt hatte, wurde später in Österreich erwischt und wegen Menschenraubes zu sechs Monaten schwerem Kerker verur-teüt. Das nationalsozialistische Deutschland entführte durch seine Polizeiorgane im Jahre 1935 aus der Schweiz den antihitlerisch tätigen Journalisten Jacob Salomon. Das führte zu dramatischen Verwicklungen und schließlich zur Rücklieferung Salomons in die Schweiz und dort zur Verurteilung des deutschen Gestapobeamten Dr. Wesemann, der die Entführung bewerkstelligt hatte.

Schon im vorigen Jahrhundert gab es völkerrechtswidrige Entführungen. So entführte Napoleon den Herzog von Enghien auf deutschem (badischem) Hoheitsgebiet und ließ ihn hinrichten. Im allgemeinen pflegten die Staaten früher nur Angehörige ihres eigenen Staates aus dem Ausland zu entführen, um sie wegen Hochverrates vor Gericht zu stellen. Erst im Eichmann-Fall grifl Israel zur völkerrechtswidrigen Entführung, um eines fremden Staatsangehörigen habhaft zu werden, den es vor Gericht stellen wollte. Das isl Israel auch vollauf gelungen, und seine Verurteilung durch den Weltsicherheitsrat konnte daran nichts ändern (Beschluß vom 23. Juni 1960). Das Zögern von Regierungen, gegen den Entführerstaat energisch vorzugehen, ändert an der Völkerrechtswidrigkeit nichts. So hat die deutsche Bundesregierung auf amerikanischen Wunsch gegen die Entführung von Koreanern, darunter des berühmten Komponisten Isang Yun, aus Deutschland durch den südkoreanischen Geheimdienst nichts außer einem sehr oberflächlichen Protest unternommen, wobei das Auswärtige Amt der Presse dringlich empfahl, sowenig wie möglich zu berichten, und die von der französischen Regierung veranlaßte Entführung des Obersten Argoud aus München (25. Februar 1963) wurde schließlich in einem Notenwechsel als ein Fall von geringfügiger Bedeutung bezeichnet. Argoud wurde in Frankreich zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, das Landgericht München stellte das Strafverfahren gegen die Entführer ein.

Weder die hohe See noch der Luftraum außerhalb der territorialen Gebiete eines Staates sind Hoheitsgebiet irgendeines Staates. Auch Schiffe sind nicht etwa ein schwimmender Teil des Hoheitsgebietes des Staates, unter dessen Flagge sie fahren. Wenn ein Staat, «im eines Menschen habhaft zu werden, der sich auf hoher See auf einem Schiff befindet, das Schiff zwingt, ihm den Betreffenden herauszugeben oder zwecks Herausgabe einen Hafen des Staates anzulaufen, so ergeben sich zwar viele Entschädigungsfragen nach Seerecht, aber eine völkerrechtswidrige Entführung muß noch nicht vorliegen.

Zweifellos sind Lücken im Vertrags- und im Gewohnheitsvölkerrecht vorhanden, was die Entführung außerhalb des Hoheitsgebietes von souveränen Staaten anlangt. Das gilt insbesondere dann, wenn Staaten selbst Entführungsakte, sei es gegen Schiffe, sei es gegen Flugzeuge, setzen. Seit einiger Zeit haben sich nämlich zweifellos auch Staaten solcher Akte schuldig gemacht. Die von arabischen Terroristen vorgenommenen Entführungen, ob nun geglückt oder nicht, können nicht auf das Konto von Privatpersonen gesetzt werden, sie sind ohne die aktive Mitwirkung durch Vorbereitung seitens einzelner arabischer Staaten, vor allem Syriens, Algeriens (Fall Tschombe), Ägyptens und offenbar auch des Libanon gar nicht denkbar und realisierbar. Dazu muß bedacht werden, daß die diversen Befreiungsfronten, vor allem jene für Palästina, in Wirklichkeit keine privaten Organisationen, vielmehr paramilitärische Institutionen arabischer Staaten sind (wie die „österreichische Legion“ vor 1938 eine solche des Dritten Reiches war). Dazu kommen aber nunmehr auch wirklich rein private Aktionen von Entführern, vor allem in Amerika, mit der schon zur Gewohnheit gewordenen Entführung nach Kuba (als wenn die Entführer dort ein Paradies vorfänden!), von Gegnern der Ostblocksysteme mit Entführungen nach Österreich und Westdeutschland. Diese Entführer können natürlich im Land, wohin sie Maschine und Passagiere bringen, wegen Menschenraubes und zumeist auch Sachbeschädigung vor Gericht gestellt und verurteilt werden. In Deutschland und Österreich erhalten sie unter Zubilligung mildernder Umstände (ideologische Gründe) zwei Jahre Freiheitsstrafe, in Griechenland ein wenig mehr, in Italien so gut wie keine Strafe, in den USA aber drakonische Strafen (auch die Todesstrafe ist dort vorgesehen). In den arabischen Ländern oder in Israel werden die regimefreundlichen Entführer gar nicht angeklagt, und wenn, dann freigesprochen.

Durch all das entsteht naturgemäß weltweit, also im internationalen Strafrecht, eine große Rechtsunsicherheit. Die Völkerrechtsgemeinschaft hat dem über die OACI abzuhelfen versucht. Die OACI (Organisation de la Aviation Civile Internationale des Na-tions Unies) ist eine UNO-Organisa-tion und hat auf Grund einer Resolution der UNO-Generalversamm-lung vom 12. Dezember 1969 verlangt, daß die bereits 1963 in Tokio unterzeichnete Konvention gegen Akte der Luftpiraterie, die nach Ratifikation durch zwölf Staaten (aber nicht durch jene, die Luftpiraterie ausüben oder begünstigen) in Kraft getreten ist, auch wirklich gehandhabt werde. Es wurden so drastische Maßnahmen verlangt wie die Todesstrafe, wobei der Ire Richte Ryan die Exekution mittels Hinauswerfens des Luftpiraten aus einem Flugzeug in 20.000 Fuß Höhe forderte. Über

Antrag Österreichs und der Schweiz wurde auf der Konferenz der OACI in Montreal am 16. Juni 1970 ein ergänzender Vertrag zur Sicherung der Luftfahrt zwischen den zivilisierten Staaten verlangt, wobei die Gerichtsbarkeit jenem Staat obliegen soll, auf dessen Territorium das entführte Flugzeug landete. Nur: Wer wird erwarten, daß Syrien oder Libyen, wenn dorthin ein Flugzeug zur Verhaftung eines Juden entführt wurde, daß Israel, wenn dorthin ein Judenmörder entführt worden ist, daß Nigeria, wenn dorthin ein geflüchteter Ibo-Führer verbracht wurde, gegen die Entführer irgend etwas unternimmt?

Immerhin können die teils geschlossenen, teils noch zu erwartenden Konventionen eines festlegen: daß die Entführung von Flugzeugen völkerrechtswidrig ist und ein Delikt nach Völkerrecht darstellt, mag die Entführung von Privatpersonen vorgenommen worden sein oder von Staaten oder Staatsregierungen, dies auch aus Lufträumen, die keinem nationalen Hoheitsgebiet zuzurechnen sind. Das ist ein Fortschritt. Denn das völkerrechtliche Delikt erfordert Wiedergutmachung, vor allem also Herausgabe des oder der Entführten, und gegebenenfalls Verurteilung des schuldigen Staates durch den Haager Gerichtshof. Dieser ist nach Abschluß des Barcelona-Traction-Falles (1970) ohnehin arbeitslos geworden. Hier könnten sich ihm neue lohnende Aufgaben stellen, wenn ein Kläger vorhanden wäre.

Die völkerrechtswidrige Entführung findet zumeist, herkömmlicherweise, statt, um einer Person habhaft zu werden, die in einem anderen Staat politisches Asyl gefunden hat. Auch Österreich ist schon mehrfach Opfer solcher Völkerrechtsverletzungen geworden, indem Organe kommunistischer Staaten, wie Ungarns und der Tschechoslowakei, sich auf österreichischem Hoheitsgebiet der Person eines Flüchtlings und Asylwerbers bemächtigten. Wenn man von papierenen Protesten 'absieht, hat Österreich diese Entführungsakte bisher stets gelassen hingenommen, so wie es gegen das Überfliegen österreichischen Territoriums durch amerikanische Luftstreitkräfte in den verschiedenen Krisenzeiten nach 1955 ebensowenig etwas unternahm wie gegen die Verletzung seines Hoheitsgebietes durch Streitkräfte der Warschauer-Pakt-Staaten beim Überfall auf die Tschechoslowakei im August 1968. Man muß es Italien hoch anrechnen, daß es niemals gegen auf österreichisches Gebiet geflüchtete Südtirol-Terroristen mit Entführungsaktionen vorgegangen ist.

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