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Der Strom zur Hütte hin

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1952/53 setzte auch für die österreichische Metallindustrie jene Konjunktur ein, die in der Folge eine rapide Belegschaftsvermehrung erforderte, so daß sich der frühere Arbeiterstand oft um mehr als die Hälfte vergrößerte. War es früher einmal üblich, daß der Beruf des Hüttenmannes vom Vater auf den Sohn überging, also eine echte elementare Bindung zum Hüttenberuf schon von Kindheit an vorhanden war, so setzte nun der Zustrom von außen ein. Damals kam es zum großen Aderlaß vor allem für das Baugewerbe; die Landflucht trieb auf die Spitze zu, wobei nicht nur Landarbeiter, sondern auch Bauernsöhne in die Hütte abwanderten, in die Fabrik, die weitaus höhere Löhne zahlte. Dieses massive Konglomerat aus Landsöhnen, Handwerkern, Bauarbeitern usw. kam aber ausschließlich der Löhne und der sonstigen sozialen Vorteile wegen. Sie kamen als Lohnarbeiter, nicht als zum Hüttenmann Berufene, Sie waren Hüttenarbeiter in erster Generation, was in der Betriebgemeinschaft seine Folgen hatte, 6ich in der persönlichen Beziehung zum Beruf auswirkte und auch auf die außerberufliche Einflußsphäre ausdehnen mußte. Was die Hüttenindustrie hier nach Abschluß des Staatsvertrages, nach Einsetzen der Hochkonjunktur und des damit verbundenen hohen Auftragsstandes an Mitarbeitern schluckte, das wird der Assimilierung von Generationen bedürfen, um eine einheitliche Gemeinschaft zu formen. Darüber sind sich die politischen Funktionäre ebenso im klaren wie der Seelsorger, der Bil-dungsfunktionär, der Werkmeister oder der Soziologe von Beruf.

Ganz anders liegen die Verhältnisse bei den Bergleuten. Der Bergbau Fohnsdorf hat nie diesen Zug zur plötzlichen Hochkonjunktur genossen. Vielmehr zeichneten sich für ihn bald schon die ersten Krisenzeichen am Wirtschaftshorizont ab. Zum Unterschied von den benachbarten Hütten ist hier die Belegschaft organisch gewachsen. Sie sind schon Bergleute in der dritten, vierten Generation und darüber hinaus. Der Bergbau Fohnsdorf verweist im übrigen auf eine 300jährige Geschichte. Dazu kommt, daß der Bergmann eine persönliche Bindung zu seinem Beruf hat. die ihresgleichen sucht. Und man muß einmal eingefahren sein in die Grube, hinunter zu den tiefsten Abbaustellen Europas. 1338 Meter unter der Erdoberfläche, um das ganz zu verstehen.

Die Sorgen des Seelsorgers

Die Erfahrungen des Seelsorgers zeigen hier interessante Vergleiche. In Fohnsdorf, mit nahezu 12.000 Einwohnern Österreichs größtes Dorf, gibt es rund 100 katholische Aktivisten in der Grube, obwohl die Landtagswahlen vom Jahre 1961 die respektable Ziffer von 1200 Fohnsdor-fer Kommunisten erbrachten!

In den steirischen Gußstahlwerken in Judenburg hingegen, wo mit 2200 Mitarbeitern um ein halbes Tausend mehr Beschäftigte registriert sind als in den Kohlengruben, bringen es die Katholiken auf nicht mehr als ein halbes Dutzend Aktivisten. Sie sind reine Außenseiter dort! Man möchte meinen, die vielen von der katholischen Landbevölkerung zugezogenen Hüttenarbeiter müßten hier zu einer bescheidenen Umschichtung führen. Weit gefehlt! Sie halten in der Regel dem Milieudruck nicht stand und legen ihr „Traditionschristentum“ — wie es der Seelsorger nennt — sofort ab. Insgesamt verspricht er sich von einem Apostolat keine reiche Ernte:

„Erst muß man einmal neutralisieren, Mauern niederreißen, Vorurteile ausmerzen; bekehren kann vielleicht eine spätere Generation!“ Selbst die Jugend kann da, belastet mit den Vorurteilen der Eltern, keine Kontakte finden. Einander meiden ist schon ein hohes Maß an Toleranz!

Um das seelsorgische Problem noch einmal mit jenem der Bergleute zu vergleichen: in Fohnsdorf findet man nichts daran, daß die KAJ mit der kommunistischen Jugend diskutiert, man geht zuweilen sogar konform. Niemand findet etwas daran, daß die KÄJ-Kapelle bei einer kommunistischen Veranstaltung musiziert, die Katholische Jugend stellt ihren Sportplatz der KP-Jugend zur Verfügung, und als nach dem Tode Pius' XII. die KAJ Fohnsdorf zu einem Requiem einlud, da erschien der gesamte Gemeinderat mit seinem sozialistischen Bürgermeister an der Spitze in der Kirche. Das ist eine Toleranz, die schon sehr weit geht. Die Frage, ob die Verehrung der hl. Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, auch bei jenem Teil eine echte sei, der abseits der Kirche 6teht, beantwortet der Seelsorger mit einem entschiedenen „Ja!“ Dieses tägliche Unter-Tag-Fah-ren, dieses tägliche bewußte Dem-Grabe-nahe-Sein scheint doch <lie Weltanschauung mitzuformen.

Der Seismograph „Bildungsfunktionär“

Der Bildungsfunktionär registriert auch feinere und gröbere

Unterschiede. Das größere Zusammengehörigkeitsgefühl zeigt sich nicht nur innerbetrieblich. Da gibt es in Fohnsdorf einen Knappschaftsverein, der sich bemüht, die Bergmannstradition aufrechtzuerhalten; ferner existiert eine Bergkapelle, ein Werksportverein, ein Trachtenverein, alpine Vereine und anderes mehr. Aber was das Wesentlichste ist dabei: alle diese Vereinigungen, die sich größtenteils

aus Bergleuten rekrutieren, erfreuen sich eines regen Publikumszuspruches. Als im Vorjahr die Bergkapelle ihren hundertjährigen Bestand feierte, da feierte ganz Fohnsdorf mit. Die Volkskunstgilde, in der Bergleute und ihre Angehörigen, aber ebenso zum Beispiel Gewerbetreibende, vom Malen bis zum Bildhauen fruchtbare Freizeitgestaltung betreiben, verdient noch besondere Erwähnung. Die von der Arbeiterkammer veranstalteten Volkshochschulkurse zeigen Fohnsdorf und Judenburg gemeinsam mit 93 Kursen im Jähre 1962 bei 1900 Kürsteilnehmern eindeutig an der steirischen Spitze. Für unseren Vergleich interessant ist dabei, daß sich Kurse wie Volkstanzen und Volksliedsingen in

Fohnsdorf bewähren, in Judenburg hingegen nicht den geringsten Anklang finden. Bleibt also auch für den Bildungsfunktionär der Schluß: bei den Bergleuten die größere Betriebsgemeinschaft, die Familie in der Gefahr des Alltags und darüber hinaus am Feierabend. Die schon zur Permanenz gewordene Bedrohung der Existenz, der gefahrvolle Beruf, die Liebe zu diesem Beruf und die Tradition mögen die wesentlichsten Ursachen dafür sein.

Leere Säle für Politik

Die politischen Funktionäre stellen zunächst übereinstimmend fest: Desinteresse dort wie da. Ausnahmen: wenn es um die Existenz geht. Leere Säle für Minister und Abgeordnete anläßlich des Wahlkampfes im vergangenen Herbst. Selbst Vizekanzler DDr. Pittermann erlebte in Fohnsdorf ein spärlich besetztes Arbeiterheim. Die große Ausnahme, ein volles Haus, wurde dem Abgeord-leten Benya zuteil. Der Grund: er sprach nicht über Politik, sondern über Probleme im Zusammenhang mit der Kohlenkrise. Das innerbetriebliche

politische Klima im Vergleich zwischen Hütte und Grube muß freilich auch von der Grundlage aus: hier organisch gewachsen — dort plötzlich Expansion, betrachtet werden. Hier wie dort sind es zwei Strömungen, die allerdings in Fohnsdorf parallel in Judenburg konträr verlaufen. Die Fohnsdorfer Strömungen bestehen aus jener Gruppe der älteren Sozialistengarde, die sich um den Landtagsabgeordneten L a c k n e r schart, und der anderen Gruppe um den ArbeiterbetriebsTatsobmann K o kail. Beide sind Sozialisten, die sich jedoch darin unterscheiden, daß die Gruppe Lackner eine disziplinierte en-bloc-Unterstützung für die SPÖ bedeutet, während die Leute um Kokail diskutier- und kontaktfreudiger auch mit den politisch Andersgesinnten sind. Sie leisten etwa einer ÖVP-Einladung auf ein Rundgespräch über politische, wirtschaftliche oder kulturelle Probleme Folge, erscheinen bei Sprechtagen des Landeshauptmannstellvertreters U d i e r (ÖVP) und gehen in Zeiten kohlenwirtschaftlicher Krisen geradewegs zu den einflußreichsten und kompetenten Persönlichkeiten, selbst wenn es sich um den „schwarzen“ Landeshauptmann K r a i n e r handelt — ehe sie als Bittsteller zur sozialistischen Prominenz nur der gleichen Farbe wegen gehen. Trotzdem: man geht im Wesentlichen parallel.

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