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Einer gegen Fünftausend

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Ende Oktober boten das Pariser Studentenviertel Quartier Latin, die Umgebung des Justizpalastes und die Seine-Brücken ein kriegerisches Bild. 5000 CRS, mobile Gendarmen und Polizisten, ausgerüstet wie mittelalterliche Helden — Stahlhelm, Eisenschild, drohende Waffen — riegelten dieses der Schönheit und dem Geist gewidmete Gebiet der Stadt hermetisch ab. Dieser Aufmarsch einer beinahe kampfstarken Division galt dem 31 jährigen Alain Geismar, der im Mai/Juni 1968 mit dem legendären Cohn-Bendit den Aufstand der Studenten organisierte und den Abgang General de Gaulles dadurch vorbereitet hat. Nicht genug des damals erworbenen Ruhms, entdeckte der Volkstribun seine Berufung zum Chef der außerparlamentarischen Linken und der maoistischen Splittergruppen und wurde der Herold einer permanenten Revolution.

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Ende Oktober boten das Pariser Studentenviertel Quartier Latin, die Umgebung des Justizpalastes und die Seine-Brücken ein kriegerisches Bild. 5000 CRS, mobile Gendarmen und Polizisten, ausgerüstet wie mittelalterliche Helden — Stahlhelm, Eisenschild, drohende Waffen — riegelten dieses der Schönheit und dem Geist gewidmete Gebiet der Stadt hermetisch ab. Dieser Aufmarsch einer beinahe kampfstarken Division galt dem 31 jährigen Alain Geismar, der im Mai/Juni 1968 mit dem legendären Cohn-Bendit den Aufstand der Studenten organisierte und den Abgang General de Gaulles dadurch vorbereitet hat. Nicht genug des damals erworbenen Ruhms, entdeckte der Volkstribun seine Berufung zum Chef der außerparlamentarischen Linken und der maoistischen Splittergruppen und wurde der Herold einer permanenten Revolution.

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Durch diesen Prozeß wurde die Aufmerksamkeit wieder auf eine politisierende Jugend und einige Intellektuelle wie Sartre, Simone de Beauvoir, den Cineasten Godard, die Schauspielerin Delphine Seyrig gelenkt, welche durch den Straßenvertrieb des obskuren Blattes i.La Cause du Peuple“ den sogenannten unterdrückten Proletariern helfen wollten. Bedeutet dieser Zirkel von einigen tausend exaltierten Jugendlichen — meistens bringen sie 5000 Personen auf die Beine — tatsächlich eine Gefahr für die V. Republik? Stehen die schweren Strafen, allwöchentlich von den politischen Sondergerichten ausgesprochen, in einem Verhältnis zu Taten, die in der Regel mit 14 Tagen bedingt sanktioniert werden? Der französische Innenminister Marcellin ve-trat nicht nur einmal die These, daß die proletarische Linke ferngesteuert sei und daß es sich um ein internationales Komplott handle. Diese Vermutung' des obersten Polizeichefs wurde zuerst belächelt, dann kritisiert, gegenwärtig aber nachdenklich kommentiert. Das prominente Mitglied der Französischen Akademie, Thierry Maul-nier, hat die Hypothesen Marcellins aufgenommen und spricht von einer weitverzweigten Verschwörung, die sich in Kanada ebenso manifestiert wie in Südamerika. Ihr ausschließliches Ziel bestehe darin, durch direkte Anwendung des subversiven Krieges, der Entführung und des Mordes die westliche und bürgerliche Gesellschaftsordnung zum Einsturz zu bringen.

Eine eingehende Prüfung dieser Behauptung läßt zumindest für Frankreich den Schluß zu, daß nicht nur 1969, sondern auch jetzt die aufgelöste „proletarische Linke“ Kontakte mit gleichlaufenden Gruppen und Splitterparteien <' “äer Kontinente unterhält. Als Drehscheibe dient der Pariser Verleger Maspero, der einstens den Jungrevolutionär Regis Debray zu Fidel Castro und Che' Guevara entsandte, die intellektuelle Verbindung zu den kom-battanten Partisanen Portugiesisch-

Afrikas pflegt und die Schriften südamerikanischer Guerillas in Europa publik macht.

Von diesen Seiten wird der offene Bürgerkrieg und Straßenkampf gepredigt, denn nach den unklaren Parteiprogrammen der Jünger Maos, Ho Tschi Minhs und Marcuses, gilt es, zuerst das Bürgertum zu vernichten und nach Zerstörung aller bestehenden Werte die Macht des Proletariates zu bestätigen. Alain Geismar triumphierte vor seinen Richtern: „Die

Kapitalien werden auf das schwerste besteuert, niemand braucht mehr Wohnungsmiete zu zahlen und sämtliche Luxuseinrichtungen werden dem arbeitenden Volke zur Verfügung gestellt.“

Die 5000 bis 6000 maoistischen Jugendlichen zwischen 16 und 30 Jahren sollen, einer gepflegten Legende nach, aus dem gehobenen Bürgertum stammen und reichlichst mit Taschengeld und sonstigen Subventionen bedacht sein. Eine soziologische Analyse aller kürzlich verhafteten und verurteilten Maoisten läßt erkennen daß die Anhänger der proletarischen Linken, von wenigen, aber interessanten Ausnahmen abgesehen, dem gehobenen Arbeiterstand und den kleinen Mittelklassen angehören. Eine solche Jugend sucht verzweifelt ein poltisches Ideal. Die Gesellschaft vermag keine andere Antwort zu geben, als ihre Handlungen sensationsmäßig hinaufzulizitie-ren und ihnen Triumphe vor den Staatsgerichtshöfen zu verschaffen. Die bisherigen Repressionen gegenüber den revoltierenden Jugendlichen hinterlassen in der öffentlichen Meinung, selbst bei Polizisten, Richtern und Staatsanwälten einen bitteren Geschmack und erzeugen eine beachtliche Malaise. Daher ist in Paris eine Gewissenserforschung im Gange, die in dem Wunsche gipfelt, originellere Methoden zu finden, um eine politisch rastlos gewordene Jugend — es sind nicht immer die schlechtesten Elemente — für eine reformierte Gesellschaft wiederzugewinnen.

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