6538859-1946_30_03.jpg
Digital In Arbeit

Frankreich uber dem Meere

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn man früher von Kolonien; vom Kolonialreich sprach, dachte man an Großbritannien und es tauchten Szenen aus vor langem gelesenen Büchern empor: Der britische Resident und seine schwarzen Untertanen, so wie sie Wallace in seinen Afrika-Büchern beschrieben hatte. Für den durchschnittlichen Kontinentaleuropäer gewann das Wort „Kolonien“ erst nach dem ersten Weltkrieg eine Wichtigkeit, die in einigen Jahren wieder dahinschwand. Und wenn er in seiner Zeitung allein das Wort Indien las, da seufzte er, und blätterte weiter.

Der zweite Weltkrieg hat aber die Bedeutung der Kolonien — zwar diesmal nicht als wirtschaftliche Faktoren, sondern als Kriegsschauplätze — wieder klar gemacht. Und es war eben im Laufe dieses zweiten Weltkrieges, daß det Bürger jener Staaten, die keinen Kolonialbesitz ihr Eigen nennen können, auf ein anderes Kolonialreich aufmerksam geworden war. Auf ein Kolonialreich, das in den schwersten Zeiten ein um so bewundernswerteres Ausharren an Seite des Mutterlandes zutage legte, als das Mutterland selber nicht in der Lage war frei zu handeln: Frankreich und seine Besitzungen in Übersee.

Die bedeutende Rolle, die die Kolonialgebiete in den ersten Zeiten der France Combattante spielten, hat sicheilidi dazu beigetragen, daß bereits 1944 auf der Konferenz von Brazzaville der Grundstein zu einem Werk gelegt wurde, das die völlige demokratische Neuordnung der Verhältnisse und Beziehungen zum Ziele hatte. Diesem Werk sollten die in der Verfassung vom 19. April 1946 enthaltenen Bestimmungen die Krone aufsetzen. Und wenn auch die Verfassung verworfen wurde, so scheint die Tatsache, daß die Bestimmungen über die Besitzungen in Ubersee einstimmig angenommen wurden, die Annahme zu berechtigen, daß jene Neuordnung im wesentlichen aufrechterhalten wird.

Das Nadikriegsfrankreich ist von der Annahme ausgegangen, daß das französische Mutterland und die Besitzungen in Übersee, die Kolonien usw., ein Garzes bilden, und daß deshalb die Bestimmungen der Verfassung auf alle Gebiete unter französischer Souveränität anwendbar sein müssen. Deshalb wird auch kein besonderer Teil der Verfassung dem neuen Statut der Besitzungen in Ubersee gewidmet, wir finden diese unter den verschiedenen Titeln wieder.

Nach der zweifellos widitigsten Entscheidung wird sämtlichen Einwohnern der Französischen Union nicht nur der Genuß aller Rechte und Freiheiten des Mensdien zugesichert, sondern auch das Bürgerrecht. Durch diesen Akt sind also sämtliche Eingeborene (der Ausdruck ist verpönt und wird amtlich nicht gebraucht, vereinfacht aber für uns die Besprechung) Bürger geworden, und zwar mit derselben Berechtigung wie die gebürtigen Franzosen. Besondere Gesetze werden die Regelung treffen, unter welchen Bedingungen dieses Bürgerrecht ausgeübt werden kann.

Durch diese Entscheidung ist also der farbige Franzose dem weißen Franzosen vollständig gleichgestellt, die Vorrangstellung der weißen Kolonisatoren hört auf, und sämtliche Posten sind für den farbigen ebenso leicht zu erreichen wie für den Weißen. Zwar wurde diese letztere Möglidikeit den Farbigen nie genommen — der verstorbene Gouverneur der AEF, Eboue, und zahlreiche Beamte im Kolonialministerium sind Eingeborene, vor dem Kriege war es sogar der Kolonialminister selber —, sie soll aber jetzt noch erleichtert werden.

Daß hier aus edelsten Motiven der Demokratie gehandelt wurde, ist nicht zu bezweifeln. Eine andere Trage ist allerdings,ob die Schlüsse der Theorie im Lichte der Praxis gesehen standhalten können?

Bereits bei dem Problem des Bürgerredtts entsteht ein Dualismus, der sich durch sämtliche Beschlüsse hindurdizieht, und auf eine Kompromißlösung zwischen zwei Schulen hinweist, die sich einander gegenüberstehen. Die große Frage, die nidit entsdiieden, sondern für die zukünftigen Legislatoren offen gelassen wurde, lautet: Föderalismus oder Zentralismus?

Der Beschluß über das Bürgerrecht sämtlicher Einwohner der Union entscheidet nicht, ob hier gemeint ist, es gebe ein besonderes Bürgerrecht der Union außer dem französischen, oder aber ob die farbigen Bewohner der überseeischen Gebiete dasselbe Bürgerrecht, nämlich das französische erhalten. Auf den ersten Blick erscheint das Problem unwichtig, und man wäre geneigt, es als juristische Wichtigtuerei zu werten. Aber in Wirklichkeit hängt von dieser offen gelassenen Frage der ganze weitere Aufbau der Union ab.

Wenn es für die Angehörigen des „France d'outre-mer“ ein besonderes Bürgerrecht gäbe, eine sogenannte „Staatsbürgerschaft der Union“, würde das bedeuten, daß auch jedes Gebiet in Übersee seine besondere Staatspersönlichkeit besitzen würde. Diese Staaten der Union — um die Gedanken weiterzuspinnen — würden mit dem Mutterland Frankreich in eine Art Föderation zusammengeschlossen sein, che von föderalen Organen verwaltet würde, zusammengestellt nach dem proportioneilen Prinzip.

Im entgegengesetzten Fall, wenn man die These der Zentralisten verfolgt, ist die Staatsbürgerschaft der Angehörigen der überseeischen Besitzungen mit jener der Franzosen des Mutterlandes identisch. Daraus folgt, daß die Souveränität auch eine und dieselbe ist, und daß sie nicht unter den Mitgliedern der Union aufgeteilt werden kann. Die zentralistische These baut also auf die beiden Grundpfeiler der französischen Staatsbürgerschaft und der nationalen Souveränität des Mutterlandes, gleichzeitig den örtlichen Versammlungen und Körperschaften ein genügend weites Arbeitsfeld zuweisend.

Diese beiden Richtungen versdimelzen sich in der Organisation der Union. Einzig die Nationalversammlung des Mutterlandes hat das Recht Gesetze zu bringen, die — mangels entgegengesetzter Bestimmungen — in den Besitzungen in Übersee ebenfalls zur Anwendung gelangen. Daraus folgt logisch, daß auch die Gebiete des „France d'outre-mer“ ihre Abgeordneten in die Nationalversammlung entsenden, die in der ganzen Union durch direkte, allgemeine, geheime und gleiche Wahl gewählt werden. Die bisherigen Posten der Generalgouverneure usw. werden abgeschafft. Frankreich wird in den Überseegebieten von Unterstaatssekretären vertreten.

Ein Vordringen der föderalistischen Richtung manifestiert sich in der Erklärung des berühmten Artikels 41: „Frankreich bildet mit den Gebieten in Übersee einerseits, und mit den assoziierten Staaten andererseits, eine freiwillig zusammengeschlossene Union.“

In dieser Union bestehen auch örtliche Körperschaften und Versammlungen, deren Aufgabe es ist, die Beschlüsse der Nationalversammlung den besonderen örtlichen Verhältnissen anzupassen. Ferner sind die Mitglieder der „France d'outre-mer“ auch in der Nationalversammlung vertreten, und zwar wurde festgesetzt, daß sie das Recht auf je einen Abgeordneten nach 800.000 Einwohner hätten.

Den örtlichen Versammlungen fällt eine wesentliche Aufgabe zu in Schaffung der Institutionen der Union. Das Budget des betreffenden Gebietes ist von ihrer Abstimmung abhängig, und sie übernehmen den größten Teil der Maditbefugnisse und des Aufgabenkreises der bisherigen Gouverneure. Ihre Mitglieder werden ähnlich gewählt wie die Abgeordneten, jedoch von einer erweiterten Wählerschaft. Die andere bedeutende Rolle, die sie spielen müssen, besteht in der Wahl der Mitglieder einer besonderen — heftig umstrittenen — Institution der Union, des Rates der Union (Conseil de l'Union), der sich ausl80Rats-. mitgliedern des Mutterlandes und der alten Besitzungen von Algerie, Guadeloupe, Martinique, Guyane und Reunion — die alle den Rang eines Departements besitzen —, und 90 Mitgliedern für die Gebiete in Übersee zusammensetzt. Um diesen Rat geht es in dem Kampf zwischen den Zentralisten und Föderalisten. Seine Absdiaffung in der Form, wie er von der verworfenen Verfassung vorgesehen wurde, kann mit Gewißheit erwartet werden.

Der Plan, der hier zum Ausdruck kommt, ist überwältigend. Er räumt mit dem Begriff „Empire colonial“ ein für allemal auf, um es durch „France d'outre-mer“ zu ersetzen. In fast heiligem Eifer den demokratischen Grundsätzen und Idealen huldigend, bridit er die bisherigen Schranken zwischen den Angehörigen des Mutterlandes und der Besitzungen nieder, und stellt beide einander gleidi. Erhabene Gedanken, eher eines Apostels als eines Staatsmannes würdig.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung