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Glosen am Polarkreis

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In den nordschwedischen Erzgruben begann am 9. Dezember des Vorjahres ein wilder Streik, der in seinem Verlauf, seinen Begleiterscheinungen und seinen Konsequenzen alles in den Schatten stellt, was Schweden bisher erlebt hat. Zur Stunde, da diese Zeilen geschrieben werden, geht er in seine siebente Woche; sein Ende scheint — nicht zuletzt auf Grund der Erschöpfung der Grubenarbeiter, die von keiner Organisation unterstützt werden — nahe. Die Schlußfolgerungen, die man aus dieser wahrhaften Bebellion in den Erzfeldern ziehen kann — und die eine verantwortliche Regierung ziehen sollte! — sind aber noch kaum überblickbar: Mit Beginn der siebziger Jahre tritt der schwedische Arbeitsmarkt, unter dem Trommelfeuer einer langen Reihe von wilden Streiks, in eine völlig neue Phase!

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In den nordschwedischen Erzgruben begann am 9. Dezember des Vorjahres ein wilder Streik, der in seinem Verlauf, seinen Begleiterscheinungen und seinen Konsequenzen alles in den Schatten stellt, was Schweden bisher erlebt hat. Zur Stunde, da diese Zeilen geschrieben werden, geht er in seine siebente Woche; sein Ende scheint — nicht zuletzt auf Grund der Erschöpfung der Grubenarbeiter, die von keiner Organisation unterstützt werden — nahe. Die Schlußfolgerungen, die man aus dieser wahrhaften Bebellion in den Erzfeldern ziehen kann — und die eine verantwortliche Regierung ziehen sollte! — sind aber noch kaum überblickbar: Mit Beginn der siebziger Jahre tritt der schwedische Arbeitsmarkt, unter dem Trommelfeuer einer langen Reihe von wilden Streiks, in eine völlig neue Phase!

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Schon die Einigkeit, die hier von fast 5000 Grubenarbeitern gegenüber den Forderungen der Unternehmensleitung und der Gewerkschaftsführung demonstriert wurde, war einzigartig. Nach vielen Jahren der schwelenden Unruhe und der wachsenden Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen, fand sich das unter schwersten Bedingungen arbeitende Arbeiterkorps zu einer spontanen Aktion zusammen, die Erstaunen und zugleich Erschrecken erregte: Der erste, in Stockholm erarbeitete Vermittlungsvorschlag, der durchaus annehmbare Bedingungen enthielt (die allerdings nur für die Belegschaft einer Grube gelten sollten!), resultierte in nicht mehr als fünf Jastimmen — und das waren die Stimmen der Gewerkschaftsleitung! Private Sammlungen auf Stra-

ßen, in Veranstaltungen, in schwedischen, norwegischen und dänischen Betrieben und auf den Hochschulen, gaben den Arbeitern einen Streikfonds von etwa drei Millionen Kronen.

Eine Welle von Sympathie strömte den Grubenarbeitern entgegen, doch keine Gewerkschaft, keine Partei und kein Mitglied der Regierung wagte es, in Wort oder Tat die Streikenden zu unterstützen — war es doch ein „wilder“, ein vertragswidriger Streik, dessen Sinnlosigkeit und Erfolglosigkeit unter allen Umständen bewiesen werden- sollte. In Schweden handelt man ganz einfach nicht so, man folgt gehorsam den von den Statuten und Verträgen vorgezeichneten Weg, auch wenn jeder Beteiligte längst eingesehen hat, daß dieser Weg von einem Bergsturz

verschüttet und die Grundlage des vielgepriesenen „ewigen Arbeitsfriedens“ längst gefährlich unterminiert ist, Veränderungen einzusehen ist nicht die Stärke der Machthabenden in Schweden — und diese Feststellung gilt in ebenso hohem Grade für die Gewerkschaften und die Führung der Arbeiterpartei, wie auch für die mächtigen Organisationen der Arbeitgeber!

Tempo, Tempo!

Eine der Hauptursachen dieser Rebellion im Grubengebiet ist zweifellos das harte Tempo der in den letzten Jahren durchgeführten Rationalisierung. In den letzten zehn Jahren „hat die LKAB ihre Erzproduktion etwa verdoppelt, doch die Zahl der Jahresarbeiter fiel in den sechziger Jahren um 1300. Einem Produktionsresultat von 1750 Tonnen im Jahre 1957 stand im Jahre 1969 ein Produktionsresultat von 3700 Tonnen pro Angestellten gegenüber. Der Umfang der Lieferungen stieg in dieser Zeit um mehr als 100 Prozent, allerdings brachten allein die letzten zwei Jahre einen Preisrückgang von 15 Prozent. Ohne diese Gruben gäbe es kein Stahlwerk in Luleä, keine gewinnbringende Erzbahn nach Nar-vik, keine Erzhäfen am Atlantik und in Luleä: Die wirtschaftliche Existenz von mehr als 150.000 Menschen im nördlichsten Teil Schwedens hängt von den Arbeitsmöglichkeiten in Kiruna und Malmberget ab. Und diese Grube läßt man monatelang stilliegen!

Eine Bitte der Grubenarbeiter an den Vorsitzenden des Verwaltungsrates des LKAB-Gruben — Reichsbankchef Per Asbrink! — um ein Gespräch wurde von Asbrink mit einer hochmütigen und jede Einsicht in die Situation vermissenden Handbewegung abgetan. Asbrink sprach immer noch von „Statuten“, „statutenmäßigen Verhandlern“ und ähnlichen Dingen, da der Konflikt dringend eine rasche und generöse Lösung gefordert hätte. Chefredakteur Olof Lagercrantz von der großen Tageszeitung „Dagens Nyheter“ kritisierte in scharfen Worten diese Nonchalance (D. N. 21, Jänner): „Wir haben in unserem Lande einen Streik in einem Unternehmen, von dem das Leben einer ganzen Provinz abhängt, doch bis heute hat noch keine Person in leitender Position versucht, sich an Ort und Stelle über

die Situation und die Stimmung im Norden zu unterrichten: Der Chef der Grubengesellschaft ist noch nicht dort gewesen, der Verwaltungsratsvorsitzende — Asbrink — ist noch nicht dort gewesen, der Chef der Gewerkschaftszentrale hat sich noch nicht sehen lassen, der Industrieminister hatte noch keine Zeit, zu kommen und auch Staatsminister Palme meidet die Erzfelder ... Asbrink antwortet auf eine Bitte der Streikenden in hochmütiger Abstraktion, dagegen deutet er mit keinem Wort an, daß er versteht, worum sich das Ganze eigentlich handelt! Reichsbankchef Asbrink hätte nach Norr-land reisen sollen, er weiß noch nicht einmal, was die Ursache ist, er hätte die Forderungen nach Menschenwürde nicht vergessen sollen, er hätte an sein Land denken sollen und nicht nur an den Vorstand...“

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