6633684-1957_01_14.jpg
Digital In Arbeit

Kritik eines Mythos

Werbung
Werbung
Werbung

Der frühere Generalstabschef und Feldmarschall Graf Schlieffen hat Ende 1912, ganz kurz vor seinem Tode, die Redaktion letzter Hand des strategischen Konzeptes vollendet, das als der Schlieffen-Plan in die Geschichte eingegangen ist. Um diesen Plan ist bin ganzer Kranz von Legenden entstanden. Er gilt und galt als ein Arkanum, als das Zaubermittel, dessen Verfälschung den Verlust des ersten Weltkrieges herbeigeführt habe. Von dieser ungesicherten Voraussetzung aus wurden die Taten der militärischen Epigonen beurteilt und verurteilt.

Nun, ein sicheres Siegesrezept war der Schlieffen- Plan keineswegs! „Er war ein kühnes, ja überkühnes Wagnis, dessen Gelingen von vielen Glückszufällen abhing” (S. 68). Schlieffen selbst erschien er als „ein Unternehmen, für das wir zu schwach sind”. Es hätte zu seinem Gelingen einer Improvisation von mindestens acht Ersatzkorps bedurft. Aber weder von Schlieffen — während seiner 15jährigen Amtszeit — noch von seinen Nachfolgern ist Erhebliches zu diesem Zwecke unternommen worden: Die Flotten- tüstung stand im Vordergrund. Noch der ältere Moltke hatte die Widerstandskraft der französischen Armee, trotz der von ihm auf französischen Schlachtfeldern erfochtenen Siege, und nicht minder den defensiven Wert des neuen lothringischen Festungsgürtels sehr hoch eingeschätzt. Er dachte nicht an „Totalsieg” auf diesem Kriegsschauplatz — so wenig wie in Rußland. Schlieffen dagegen stützte sein Konzept auf einen Durchbruch in Belgien, ja sogar durch Holland (was der jüngere Moltke dann ablehnte), und stellte die britischen Eingreifsmöglichkeiten sehr niedrig ein.

Am seltsamsten berührt, daß Schlieffen gegen Rußland überhaupt keine Truppen stehen lassen wollte, zu einem Zeitpunkt, da es sicher war, daß Rußland und nicht Frankreich „die Lawine ins Rollen bringen würde”.

Auch das „Marnewunder” ist kein „Wunder”! Denn schon Schlieffen hat sich mit dem Rätsel be faßt, wie die flankierende Hauptfestung Paris, zugleich der zentrale Eisenbahnknotenpunkt für Truppenverschiebungen, bezwungen oder für sein großes Konzept unschädlich gemacht werden könnte. Aber er sagt selbst: „Ehe die Deutschen an die Somme oder Oise kommen, werden sie sich überzeugt haben, daß sie für das Unternehmen, das sie auf sich genommen haben, zu schwach sind” (Entwurf VI). Und: „Wir werden die Erfahrung aller früheren Eroberer bestätigt finden, daß der Angriffskrieg sehr viele Kräfte erfordert und sehr viele verbraucht, daß diese ebenso beständig abnehmen wie diejenigen des Verteidigers zunehmen, und alles dies ganz besonders in einem Lande, das von Festungen starrt.” Eine er schütternde Feststellung. Hätte sie nicht den Feldmarschall zu der Erkenntnis bringen müssen, ein grundlegend neuer Entwurf hätte erarbeitet werden müssen? Aber vielleicht gab es kein Konzept mehr, das bei der Weltlage einen Erfolg versprach? War der Krieg strategisch verloren, ehe er begonnen hatte? Und vielleicht lag der Fehler der militärischen Nachfolger des Grafen Schlieffen nicht so sehr in der fehlerhaften Anwendung oder Abänderung des Schlieffen-Planes, als in seiner Anwendung überhaupt.

Die vorliegende Arbeit ist eine Fortführung der von Gerhard Ritter unternommenen Untersuchungen zum Problem des Militarismus in Deutschland, aus denen bereits der Band „Staatskunst und Kriegs handwerk” hervorgegangen ist. Die Aufmarsch- und Operationspläne Schlieffens werden hier zum ersten Male in vollem Wortlaut veröffentlicht. Sie werden parallel mit der politischen Lage und den aus dieser entspringenden diplomatischen Aktionen entwickelt. Von hohem Interesse sind die Ausblicke, die sich hierbei ergeben. Die anerkannte Meisterschaft des Autors, seine Darstellungskunst und Objektivität führen zur Klärung eines bisher verkannten Problems: nicht nur zur Kritik, sondern zur Auflösung eines Mythos.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung