6771935-1969_06_07.jpg
Digital In Arbeit

Neue Sorgen für de Gaulle

19451960198020002020

Staatspräsident de Gaulle hat seine Reise in die Bretagne hinter sich. Inzwischen herrscht eine fieberhafte Tätigkeit im Hauptquartier der Kriminalpolizei in Nantes und im Pariser Innenministerium, von wo täglich Informationen über Verhaftungen, Verhöre und Uberführungen von Sprengstoffattentätern aus den Kreisen bretonischer Autonomisten durchsickern.

19451960198020002020

Staatspräsident de Gaulle hat seine Reise in die Bretagne hinter sich. Inzwischen herrscht eine fieberhafte Tätigkeit im Hauptquartier der Kriminalpolizei in Nantes und im Pariser Innenministerium, von wo täglich Informationen über Verhaftungen, Verhöre und Uberführungen von Sprengstoffattentätern aus den Kreisen bretonischer Autonomisten durchsickern.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Nervosität der örtlichen und zentralen Stellen war durchaus begreiflich: Wenn es auch unwahrscheinlich war, daß sich eine Aktion der Autonomisten gegen die Person de Gaulies richten könnte — als Befürworter der Regionalisierung kommt der Staatschef den Unabhängigkeitsbestrebungen bestimmter bretonischer Kreise durchaus entgegen —, so war doch nicht auszuschließen, daß die sehr aktive Organisation „Front für die Befreiung der Bretagne“ den Besuch zum Anlaß spektakulärer örtlicher Terroranschläge nehmen könnte.

Der Generalstab des F.L.B, hat seinen Sitz in Irland, und zwar in Bray, in der Nähe von Dublin. Ihr Chef Yann Goulet floh nach dem Kriege aus Frankreich, da er während der Besatzungszeit mit den deutschen Militärbehörden zusammenarbeitete.

Seinem Befehl unterstehen mehrere Operationsgruppen, die über die ganze Bretagne verteilt sind. Die Basisgruppen umfassen drei bis fünf Mann, die von einem „Korporal“ geführt werden. Diese kleinen Gruppen werden als „Bagad“ bezeichnet. Einheiten, in denen mehrere Basisgruppen zusammengefaßt sind, führen die Bezeichnung „Kevrenn“ und unterstehen einem „Offizier“. Einer Aufdeckung des gesamten Netzes durch Sicherheitsorgane wird dadurch vorgebeugt, daß zwischen den einzelnen „Kevrenn“ keine Verbindung besteht.

Das jüngste Auffliegen eines „Kevrenn“ im Departement Loire-Atlan-tique und die Verhaftungswelle, die noch im Gang ist, hat viele Mitglieder der bretonisohen Befreiungsfront zum Untertauchen oder zum Verlassen französischen Bodens veranlaßt. Am 2. Jänner erfolgte in einem verlassenen Steinbruch im Gebiet von Ellian eine Explosion, die zehn Kilometer im Umkreis gehört wurde. Es wird vermutet, daß mit einer Sprengstoffzerstörung großen Ausmaßes Spuren verwischt und belastende Dokumente vernichtet werden sollten.

In diesen Tagen hat das Hauptquartier der Befreiungsfront von Irland aus ein Manifest an eine Reihe von Zeitungen versandt, das — wie es hieß — im Einvernehmen mit den Freiwilligen der republikanischen bretonischen Armee abgefaßt worden sei. Das Dokument spricht sich für eine „Dekolonialisierung“ der Bretagne unter Anwendung allgemeiner sozialistischer Prinzipien aus. Wörtlich heißt es: „Wir lehnen die kollektivistische und staatliche Unterdrückung ab. Unsere Bewegung ist humanistisch, föderalistisch und europäisch. Wir fordern für uns die absolute Selbstbestimmung über unsere eigenen Angelegenheiten.“

Der Pariser Journalist Maurice Delarue versuchte an Ort und Stelle Stimmungen und Tendenzen zu erkunden. Er konnte feststellen, daß es in der Bretagne neben der militanten F.L.B. eine Fülle anderer bretonischer politischer und geistiger Gruppen gibt, die sich untereinander in Haltung und Aktion nicht unwesentlich unterscheiden. Einen nicht unbedeutenden Widerhall findet in der Bretagne die M.O.B. (Bewegung für die Organisation der Bretagne). Diese Gruppe mißbilligt die Terrorakte und beansprucht für sich die Qualifikation europäischer Föderalisten. Auf die Frage Delarues an ein Organisationsmitglied, ob denn seine Gruppe für Autonomie oder Unabhängigkeit kämpfe, erhielt. er folgende Antwort: „Sie sprechen wie ein Lateiner. Wir haben keinen Status im Kopf. Wir wollen nur bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Bretagne in den Vordergrund rücken, nachdem man sie jahrhundertelang ihrer Substanz beraubte. Wir sind Pragmatiker und deshalb werden wir uns eines Tages mit de Gaulle verständigen, der es ebenfalls ist. Wir erkennen an, daß er den Mut aufbrachte, mit der Regionalform den jakobinischen Riegel zu sprengen ...“ In den Regierungskreisen gibt man vor, die bretonischen Autonomiebestimmungen nicht allzu ernst zu nehmen. Man weist darauf hin, daß die Bretagne in den Stunden der Gefahr bisher an ihrer Zugehörigkeit zu Frankreich keinen Zweifel gelassen hat. Tatsächlich sind im ersten Weltkrieg 250.000 Bretonen auf den Schlachtfeldern gefallen, und die Gruppe, die während des zweiten Weltkriegs in der Hoffnung auf die ihr zugesagte Autonomie mit den Deutschen direkt oder indirekt zusammenarbeitete, fällt gegenüber den aktiven Widerstandskämpfern zahlenmäßig nicht entscheidend ins Gewicht.

Überdies ist die Zahl der fast ausschließlich bretonisch fühlenden und sprechenden Menschen — sie wurde noch 1928 auf 1,400.000 Personen geschätzt — stark zusammengeschmolzen. Man rechnet damit, daß heute auf der Bretagne-Halbinsel noch 600.000 bis 800.000 Einwohner das Bretonisohe beherrschen, das eine gewisse Verwandtschaft mit dem Gallischen und dem Cornwall-Idiom hat. Freilich ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß die bretonische Autonomie im Rahmen verwandter Bestrebungen an verschiedenen Punkten unseres Erdteils als Gedanke neuen Auftrieb gewinnt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung