6542071-1946_46_05.jpg
Digital In Arbeit

Psychologie in Alltag und Schule der USA

Werbung
Werbung
Werbung

Man merkt so recht in Amerika, daß wir im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Psychologie, leben. Nirgends auf der Welt tritt einem auf Schritt und Tritt so viel verwandte Psychologie entgegen wie im Alltag des amerikanischen Lebens Ob es nun die Reklame in Zeitungen, Zeitschriften, Kinos, auf Plakaten ist, wo man übrigens viel echte Kunst findet, oder die Geschäftswerbung im Radio durch Schlagworte, Leitmotive oder Lieder, ob ganze „Soap Operas“, Seifenopern, im Radio gebracht werden, die so genannt werden, weil sie oft von Seifenfirmen finanziert werden, überall findet sich die praktische Anwendung jener Wissenschaft, die die Stärke der menschlichen Motive und Leidenschaften in einer Liste zusammengestellt hat und nun ihre Wirkung auf „sex“ oder „Appetit“ oder „Gesundheitsbedürfnis“ genau auskalkuliert.

Die angewandte Psychologie auf dem Gebiete des Geisteslebens finden wir dort, wo wir sie im alten Europa am häufigsten vermissen: in den wissensdiaftlichen Büchern und in den Lehrbüchern für alle Sdiul-stufen. Das amerikanische Lehrbuch ist fast ausnahmslos von einer Schönheit der Aufmachung und einer Fülle der Anschauungsbilder, daß es eine Freude ist, ein solches Buch in die Hand zu nehmen. Ein wissenschaftliches Buch ohne mindestens einen Index gilt als unmöglich, während bei uns noch genug Bücher erscheinen, die ohne Personen- und Sachverzeichnis gedruckt werden. Die Stoffdarbietung ist mit Anschauungsmaterial, Photographien, Bildern, Karten, Diagrammen usw. reichlich begleitet. Für die psychologische Methode kennzeichnend ist der Schluß eines jeden Kapitels; dort werden Fragen gestellt, die mittels verschiedener psychologischer Methoden den Leser dazu bringen, daß er sich selbst Rechenschaft geben kann, ob er den Inhalt des Kapitels tatsächlich sich zu eigen gemacht hat oder ob noch Wiederholung oder ein Auffüllen von Lücken notwendig ist.

Diese psychologische Ausrichtung der Lehrbücher ist in der Hauptsache auf folgende Tatbestände des amerikanischen Lebens zurückzuführen: der Amerikaner hat eine ungeheure Achtung vor der Bildung und vor Wissen, und wenn ihm das Leben in seiner Jugend ein Studium finanziell nicht ermöglicht, dann holt er das nach, wenn ihm sein Beruf genügend Freizeit läßt. Ich lernte in Oran im Sommer 1943 einen Sergeant kennen, der sich mir als Kollege vorstellte. Er war etwa 30 Jahre alt und sagte mir, er studiere in seiner Freizeit. Sein Fach war Latein und er hatte bereits den Grad eines Bachelor (Bacca-laureus, bei uns schon ausgestorben) erreicht. Als ich ihn, dessen Eltern aus Böhmen eingewandert waren, fragte, was er denn sonst für einen Beruf habe, antwortete er: „Delam na poste — ich arbeite auf der Post.“

Für diese Tausende und Zehntausende, die ihr Studium als Fernstudium betreiben müssen, haben viele amerikanische Universitäten sogenannte „Extension Departments“, Abteilungen für Korrespondenzkurse, eingerichtet, die den Studenten mit Lehrbüchern versorgen, ihn beraten, ihm schriftliche Aufgaben schicken, die nach Lösung an die Universität zur Korrektur durch den zuständigen Professor eingeschickt werden, und ihn soweit bringen, daß er seine Prüfung ablegen und „graduieren“ kann. Die meisten Lehrbücher tragen diesen Umständen Rechnung und müssen ihr Material so anordnen daß auch der zurechtkommt, der nicht täglich den Professor um Rat fragen kann, wenn ihm in dem Lehrbuch nicht alles klar ist. Daß sich diese psychologische Abfassung von Lehrbüchern auch für die anderen, regulären Studenten von Vorteil erweist, liegt auf der Hand

PorseHanfiguren, Service Antiquitäten, alter Scnmuck für Höchstpreis gesucht IMHOF, Wien t Kohlmarkt 18

Wer sich die Mühe genommen hat, sich mit der amerikanischen Wissenschaft eingehend zu beschäftigen und dem es gelungen ist, sich einen Uberblick zu verschaffen und in der Gesamtschau dann einen Vergleich mit Europa zu ziehen, kommt zu folgenden Beobachtungen:

Das Schwergewicht der westeuropäisdien Kultur und Zivilisation ist nicht mehr unveränderlich im alten kriegszertrampelten Europa verankert, sondern beginnt sich allmählich mehr und mehr nach den Vereinigten Staaten zu verlagern. Die Zeiten sind vorbei, da amerikanische Studenten scharenweise nach Wien, Heidelberg und Göttingen pilgern, um mit dem dort erworbenen Wissen und dem dort erworbenen Bewußtsein um die Universitas Litterarum die Lehrkanzeln der amerikanischen Universitäten zu besetzen. Schon nach dem ersten Weltkrieg setzte der Zug alteingesessener europäischer Professoren nach den berühmten amerikanischen Universitäten ein und der Nationalsozialismus wie überhaupt der Weltkrieg verstärkte diese Wanderung. Und dazu der lange Krieg, der den Studienbetrieb der Hochschulen in Europa schwer gestört hat. Auch diejenigen Gelehrten, die die glänzende Tradition europäischen Geisteslebens weiterzuführen berufen sind, müssen erst wieder Anschluß gewinnen an die amerikanische Wissenschaft, die in den letzten zwölf Jahren nicht stillgestanden, sondern eine steile Aufwärtsentwicklung mitgemacht hat.

Wenn wir aus dem kommenden Konkurrenzkampf, aus dem friedlichen Wettstreit der Wissenschaft in der Alten und in der Neuen Welt, neue, fruchtbare Entwick-_ lungen und Erkenntnisse aufsteigen sehen, dann dürfen wir Amerika erkenntlich dafür sein, daß es in lichtloser Zeit das Erbe westlichen Geistes nicht nur treulich bewahrt und behütet, sondern auch weiterentwickelt hat, so daß es jetzt im Frieden in der Lage ist, es der'Kulturwelt in neuer Gestalt zu übermitteln.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung