6788009-1970_22_01.jpg
Digital In Arbeit

Rumäniens Seiltanz

19451960198020002020

Rumäniens Partei- und Staatschef Nicolae Ceausescu hat am 19. Mai 1970 in Moskau eintägige Verhandlungen „in offener und kameradschaftlicher Atmosphäre“ geführt. Wer seit den Jahren des rumänischen „Alleingangs“ der westlichen Sensationsmache um die ruhige Selbstbehauptung der vorbildlich kommunistischen Bukarester Parteihierarchie gefolgt ist, müßte gegenwärtig einen Vulkanausbruch nach dem sowjetisch-rumänischen „Gipfel“ erwarten — oder die vollständige, wertlose Einordnung der Rumänen in das militärische, wirtschaftliche und außenpolitische Führungskonzept des Kremls. Sehen wir von der säkularen Hochwasserkatastrophe ab, durch die Rumänien gegenwärtig geprüft wird, so sind alle Balkenlettern und Schlagzeilen über Sieg oder Untergang der rumänischen KP-Führung unzutreffend. Bereits vor einem halben Jahrzehnt steckte ein führender Bukarester Funktionär die Möglichkeiten des rumänischen Alleingangs ab: „Wir tun was wir können, aber wir können nicht alles tun, was wir wollen!“ Diese Parole gilt auch im Frühsommer des Jahres 1970.

19451960198020002020

Rumäniens Partei- und Staatschef Nicolae Ceausescu hat am 19. Mai 1970 in Moskau eintägige Verhandlungen „in offener und kameradschaftlicher Atmosphäre“ geführt. Wer seit den Jahren des rumänischen „Alleingangs“ der westlichen Sensationsmache um die ruhige Selbstbehauptung der vorbildlich kommunistischen Bukarester Parteihierarchie gefolgt ist, müßte gegenwärtig einen Vulkanausbruch nach dem sowjetisch-rumänischen „Gipfel“ erwarten — oder die vollständige, wertlose Einordnung der Rumänen in das militärische, wirtschaftliche und außenpolitische Führungskonzept des Kremls. Sehen wir von der säkularen Hochwasserkatastrophe ab, durch die Rumänien gegenwärtig geprüft wird, so sind alle Balkenlettern und Schlagzeilen über Sieg oder Untergang der rumänischen KP-Führung unzutreffend. Bereits vor einem halben Jahrzehnt steckte ein führender Bukarester Funktionär die Möglichkeiten des rumänischen Alleingangs ab: „Wir tun was wir können, aber wir können nicht alles tun, was wir wollen!“ Diese Parole gilt auch im Frühsommer des Jahres 1970.

Werbung
Werbung
Werbung

Vor allem muß man die begrenzte Aktionsmöglichkeit und Entscheidungsfreiheit Bukarests an der Gesamtlage der südosteuropäischen Volksdemokratien messen, zusätzlich an der Entwicklung im östlichen Mittelmeer und im Nahen Osten. Ein Blick auf die Karte, einige Meldungen über die gesteigerte militärische Präsenz der Sowjetarmee in Donau-Balkaneuropa und im Nahen Osten lassen eine gewisse Apathie, gelegentlich auch Pessimismus in bezug auf die volle Wahrung der Souveränität der einzelnen Staaten begreiflich erscheinen. In einer Zeit der COMECON-Engpässe und der anhaltenden Abhängigkeit von sowjetischen Lieferungen, von sowjetischer Rüstung und Ausrüstung, im Zeichen der Annäherung oder mindestens der Gesprächsführung der USA und der Bundesrepublik Deutschland mit dem Kreml läßt sich von einer Kleinnation innerhalb des Kommunistischen Commonwealth kein Trapezakt ohne sicherndes Netz vollführen. Es steht eindeutig fest, daß der sowjetisch-tschechoslowakische Freundschaftsvertrag vom 6. Mai 1970 eine neue Phase kollektiver Souveränität unter dem Schutz und Schirm des Kreml eingeleitet hat.

Von sowjetischer und volksdemokratischer Seite wird nun geleugnet, daß es die sogenannte Breschnjew-Doktrin überhaupt gibt. Der langjährige Beobachter osteuropäischer Vorgänge ist fast geneigt, den östlichen Dementis Glauben zu schenken. Tatsächlich hat der Kreml seit Bestehen des Sowjetstaates, sogar in Perioden der Verohnmachtung und inneren Wirren, die Errungenschaften der proletarischen Weltrevolution an jedem Standort des Erd-.balls zu schirmen und zu sichern getrachtet. „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ zielt auf eine expansive Politik, kennt und anerkennt nur ideologische Fronten, keine Staatsgrenzen, keine Grenzen der kontinentalen und der Machtbereiche. Es steht auf einem anderen Blatt, daß seit dem 21. August 1968 der Kreml erneut die Pflicht zur Intervention für die Sicherung des sowjetimperialen Besitzstandes predigt. Es gibt zweierlei Völkerrecht. Wer außerhalb des kommunistischen Weltlaigers existiert, kann sich so lange auf den Grundsatz der Nichteinmischung berufen, als die eigene Landesverteidigung, die außenpolitische Situation, die Beziehungen der Nachbarschaft dies gestatten. Zweifellos ist aber mit der wieder und wieder bekräftigten „Breschnjew-Doktrin“ ein Unsicherheitsfaktor in die West-Ost-Beziehungen hineingetragen worden, der sich dm späten und kalten Frühjahr 1970 wieder bemerkbar macht. Erst eine tatsächliche Solidarität des Westens könnte die Anerkennung eines einheitlichen, gemeinsamen Völkerrechts herbeiführen. Damit aber wäre die einzelstaatliche Souveränität auch innerhalb des sowjetisch-volksdemokratischen Commonwealth anders gesichert als zur Zeit.

Mag sein, daß einige Mißverständnisse zwischen dem Kreml und den donau-balkaneuropäischen Volksdemokratien zum Teil darauf beruhen, daß in der Sowjetunion auf Niknta S. Chruschtschow Männer mit einer härteren Gangart folgten, während in einer Anzahl südosteuropäischer Volksdemokratien „Zentristen“ oder reformfreundliche Partei- und Staartschefs wirkten. Denken wir doch nur an den geprüften, aber volkstümlichen und findigen Jdnos Kdddr in Ungarn.

Für eine unbedingte blockpolitische Gefolgschaft konnte er einen elastischeren Kurs im Inneren des Landes eintauschen. Gerade jetzt zeigen sich jedoch eine größere Zahl parteiergebener Funktionäre und Normalbürger beunruhigt über die Rückkehr des 80jährigen Mdtyds Räkosi nach Ungarn. Gewiß wird Rakosi nichts mehr anstellen. Aber er ist die Symbolfigur einer Ära.

Die Völker Osteuropas fürchten, gewiß nicht die Wiederkehr d*s Stalinismus, sondern Halbstalinisten, die dem Prozeß führungspolitischer Normalisierung innerhalb der Sowjetsphäre hinderlich sein könnten. Eine ähnliche Besorgnis beobachtet man in den letzten Wochen in Jugoslawien, wo Freund und Gegner, Pionier und fromme Greisin dem betagten Staatschef Tito-Broz am liebsten ein tausendjähriges Leben wünschten. Zu schweigen von Albanien,' wo die ständige Bereitschaft gegen die sowjetischen „Revisionisten“ seit April dieses Jahres erneut bekräftigt und militärisch ausgebaut worden ist. Partisanenkriege sind ja nicht bloß für potentielle Eindringlinge, sondern auch für die betroffenen Völker ein hartes, nicht verlok-kendes Geschick. Offenbar liegt es aber in der Hand der Kremlführung, diese Befürchtungen der Nachbarstaaten zu steigern oder zu zerstreuen. Die blockinteme Front der Halbstalinisten gegen die Revisionisten und Progresaisten hat überdies die Reformer keineswegs vernichtet, dafür aber in mehreren Ländern den Maoismus bei der jungen Generation als neue „Errungenschaft“ ideologischen Zwistes hochgespielt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung