6787540-1970_19_24.jpg
Digital In Arbeit

„Sonnenschein in unseren Herzen...“

Werbung
Werbung
Werbung

Drei Daten in der 80jährigen Geschichte des 1. Mai standen im Zeichen eines Sieges. 1907 feierte man die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes, für das man seit 1890 neben der Forderung nach Achtstundentag und politischer Gleichberechtigung demonstriert hatte. 1945 prägte die Freude über das Wiedererstehen der Republik Österreich und die Etablierung der SPÖ als staatstragende Partei die Maifeier. 1970 endlich feierte man „den Anbruch einer neuen Epoche“, ausgelöst durch den sozialistischen Wahlsieg vom 1. März. Ungefähr 40.000 Wienerinnen und Wiener zogen an einer ebenso großen Zahl Spalier bildender Genossen vorbei, aus allen Bezirken kommend, zum Rathaus, um dort der fast vollzählig erschienenen Bundesregierung zuzujubeln.

„Der 1. Mai hat“, meinte der sozialistische Abgeordnete und Landesparteisekretär Heinz Nittel, „neben seiner zeitlosen Aussage, dem Ausdruck der Gleichberechtigung der Sozialistischen Partei und der Arbeiterbewegung, immer natürlich auch die Aussage, die sich aus der politischen Situation ergibt.“ Infolge der eindeutigen, momentanen politischen Situation enthielten sich die Transparente, die nach „von der Parteileitung ausgegebenen Richtlinien“, von 15.000 Funktionären in ihrer Freizeit angefertigt worden waren, fast jeder Polemik. Sie gaben schlagwortartig die Regierungserklärung Dr. Kreiskys wieder: „Oben — Ohne — Obrigkeits-staat“, „Für ein modernes Österreich“, „Bildung ist Fortschritt“, „Mehr persönliches Glück“.

Die Diskussion um die Zeitgemäßheit des Maiaufmarsches wird vor allem von der Jugend innerhalb der SPÖ getragen. Diese, frei von Emotionen und unbelastet von vergangenen Maifeiern, fordert die Umfunktionie-rung der nicht zeitbezogenen Demonstration.

Heinz Nittel drückt das so aus: „In einer Partei, die lebendig und Teil der Gesellschaft ist, muß es immer die Diskussion geben, wie die Form der politischen Präsentation erfolgen soll.“

Allerdings ist er der Meinung, daß die Kundgebung des 1. Mai ein notwendiger Bestandteil sozialistischer Politik ist und daß „die Form, die wir heuer zum Ausdruck gebracht haben, doch der politischen Position voll entspricht“.

Der Umstand, daß sich in fast ganz Westeuropa die traditionellen Maifeiern zu schlichten Gedenktagen gewandelt haben, brachte es mit sich, daß sich mehrere hundert Vertreter sozialistischer Bruderparteien in Wien einfanden. So erlebten rechts und links von Dr. Kreisky auf den Ehrentribünen 200 Deutsche und Schweden sowie 800 Funktionäre aus den verschiedenen Wiener Bezirken ein mitteleuropäisches Phänomen. Über vier Stunden lang zogen Genossen und Genossinnen an den unermüdlich winkenden Funktionären vorbei und gaben ein Bild davon, „wie viele Personen dem Ruf der Partei“ folgen.

Einer der Sprecher, die sich sonst darauf beschränkten, Statistiken über die Zuwachsrate der SPÖ bei den einzelnen Wahlen zu verlesen, faßte die Stimmung in Worte: „80 Jahre 1. Mai sind 80 Jahre Sonnenschein in unsere Herzen.“

Gegen Mittag, von Parolen und Dauer der Veranstaltung gleichermaßen ermüdet, sang man das Lied der Arbeit.

Nachher gaben die Spitzenfunktionäre dem sich gefährlich drängenden Fußvolk Autogramme.

Und die Würstelstände hinter dem Rathaus waren in Minuten ausverkauft. Photo: wasche!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung