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Thirrings irrender Plan

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Der Universitätsprofessor der theoretischen Physik und sozialistische Bundesrat Hans Thirring hat vor einiger Zeit den Österreichern eine vollständige einseitige Abrüstung, die Auflösung unserer Landesverteidigung und des Bundesheeres vorgeschlagen. Er geht dabei von folgenden (vom Verfasser frei zusammengezogenen oder formulierten) Thesen aus, auf die anschließend eingegangen wird:

1. Durch die Entwicklung der Atomwaffen und der Interkontinentalraketen, welche die Kriegstechnik und -Strategie revolutionierten, ist die Verteidigung eines Landes mit den bisherigen herkömmlichen Mitteln obsolet geworden. Da der Einsatz der Atomwaffen die völlige Vernichtung der Welt bedeuten würde, kann ein totaler Krieg zwischen Ost und West zwar mit konventionellen Waffen begonnen, nicht aber bis zur letzten Entscheidung geführt werden.

2. Die hierdurch entstandene Situation stellt eine derartig schwere finanzielle und psychische Belastung dar, daß nunmehr beide Seiten ein echtes Interesse an einer vollständigen Abrüstung besitzen. An einer solchen sind die kleinen Länder infolge ihrer Ohnmacht erst recht interessiert.

3. Haupthindernis für eine Abrüstung ist das zwischen den Großmächten bestehende Mißtrauen. Zu dessen Abbau könnten praktische Demonstrationen des Abrüstungswillens beitragen.

4. Eine solche Demonstration wäre die freiwillige einseitige Abrüstung eines in geeigneter politischer und militärischer Lage befindlichen und keinem der Blöcke zugehörigen Staates. Zu solchen zählt Professor Thirring insbesondere Österreich, Finnland und Irland. Die Schweiz und Schweden scheiden nach Thir-rings Meinung aus — das erste Land aus psychologischen, das zweite aus wirtschaftlichen Gründen.

5. Daß Österreich eine Landesverteidigung insbesondere als Schutz gegen eine Aggression kommunistischer Nachbarstaaten braucht, trifft nach Thirrings Meinung nicht zu. Der Kommunismus strebe die Weltherrschaft nicht — wie Hitler — durch Krieg, sondern durch Revolutionen im Inneren der Länder an. Dazu komme weiter die seit Stalins Tod eingetretene und auf friedliche Koexistenz und auf Abrüstung gerichtete Wandlung im Sowjetkommunismus.

6. Somit könnte ein Land, das sich durch freiwillige einseitige Abrüstung zu einem Testfall für friedliche Koexistenz abstempelt, damit rechnen, daß es von seinen Nachbarn — auch von seinen kommunistischen — respektiert werden würde. Denn ein Uberfall auf ein solches Land würde alle Hoffnungen auf Entspannung und auf einen Erfolg der Abrüstungsverhandlungen begraben. Daher wäre ein als Testfall deklarierter Staat ein für das Gesamtwohl der Menschheit viel zu wertvolles Objekt, als daß irgendein Nachbarstaat auf ihm einen militärischen Spaziergang wagen würde. Wenn zum Beispiel der Ostblock Österreich durch einen Handstreich in einen kommunistischen Staat verwandeln würde, dann wäre der hiermit für den Kommunismus erreichte Gewinn lächerlich gering im Vergleich zum Prestigeverlust und dem Schaden, den jene durch die von ihnen bewirkte Zerstörung der Möglichkeiten friedlicher Koexistenz erleiden müßten.

Der Status des völlig abgerüsteten Österreich könnte durch seine Nachbarländer, die Signatarstaaten des österreichischen Staatsvertrages und die Vereinten Nationen anerkannt, garantiert und kontrolliert werden.Von den Nachbarstaaten würde nur verlangt werden, daß sie eventuell ihre an den gemeinsamen Grenzen mit Österreich befindlichen Truppen abziehen und wo anders stationieren.

Antwort an Thirring

Auf diese Thesen und Vorschläge des Professor Thirring ist zu entgegnen:

1. Die durch die Kern- und Raketenwaffen bewirkte Änderung in der militärischen Strategie und Technik betrifft zunächst jene, die über sie verfügen. Ihre beiderseitigen wirtSchafts-, organisations- und militärstrategischen Zentren und Positionen sind das erste und hauptsächliche Ziel in einer atomaren Konflagration.

Die Atomgroßmächte sind daher in der Tat gezwungen, den völligen Verzicht auf die Verwendung der Atomwaffe zur Durchsetzung ihrer Politik und Interessen ernsthaft zu wünschen. Sie haben aber keineswegs darauf verzichtet, sich anderer Mittel und Methoden zu bedienen. So hat es seit dem Bestehen der Atomwaffe eine ganze Reihe von Kriegen und militärischen Aktionen gegeben, die häufig von sogenannten „Stellvertreter“-Staaten der Großmächte in deren Auftrag oder Interesse mit konventionellen Waffen geführt wurden. Wohl fanden fast alle diese Auseinandersetzungen außerhalb Europas statt, es gibt aber keinen bleibenden Grund, der verhindern kann, daß es unter gegebenen Umständen nicht auch in Europa zur Aggression eines Stellvertreters gegen ein anderes Land kommen könnte. Die jüngsten Ereignisse auf Zypern sind ein Beispiel für die Umstände und Formen einer solchen Möglichkeit.

2. Eine österreichische einseitige Abrüstung hätte nicht den geringsten Einfluß auf die so notwendige Abrüstung der Großen, deren Potential die Gefahr für die Welt darstellt. Ihr Wunsch und ihr Bestreben, abzurüsten, kann daher nur durch die gleiche beiderseitige Bereitschaft und Tat beider einander allein gefährlicher Großmächte beeinflußt werden. Umgekehrt würde die Entblößung Österreichs von jeglichem Wehrpotential geradezu eine Einladung zu einer militärischen und politischen Aggression — wenn auch in den Umständen angemessenen spezifischen Formen — schon allein deshalb bedeuten, weil keine Großmacht ein Vakuum oder eine Veränderung der militär- und politisch-strategischen Verhältnisse im Herzen Europas dulden würde. Wenn eine solche Situation entstünde, dann wäre es allerdings sehr wohl denkbar, daß beispielsweise der Westen sich nicht wegen eines zu seiner eigenen Verteidigung nicht bereiten Österreich auf eine militärische Aktion einlassen und einen Atomkrieg riskieren würde.

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