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Abschied fur Pax sovietica?

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Die wichtigsten Ereignisse in der Politik sind nicht immer diejenigen, die sich die Schlagzeilen der Presse erobern. Wollte man den Schlagzeilen vertrauen, müßte man zu der Überzeugung gelangen, daß sich auf dem Gebiete der Abrüstung in der Sowjetunion entweder überhaupt nichts tut oder jedenfalls nichts von Bedeutung geändert hat.

Zahlreiche Gespräche in Moskau und Leningrad mit prominenten Persönlichkeiten von Politik und Wissenschaft, die sich mit Abrüstungsfragen befassen, haben mich jedoch davon überzeugt, daß dieser Eindruck falsch ist und daß sich im Gegenteil im Abrüstungsdenken der Sowjetunion eine als Zumindestens nicht uninteressant zu wertende Entwicklung feststellen läßt. Das gilt freilich mehr nur von der technisch-wissenschaftlichen Seite der Abrüstungsfrage, aber da heute das politische Problem der Abrüstung eng mit den technisch-wissenschaftlichen Problemen verknüpft ist, ja teilweise geradezu von diesen bestimmt wird — man denke etwa an die jahrelang diskutierte. Frage, ob es möglich sei, Nuklearexplosionen von Erdbeben zu unterscheiden und eine eventuelle Verletzung des Teststoppabkommens festzustellen —, ist ein Fortschritt auf technisch-wissenschaftlichem Gebiet geradezu eine Voraussetzung eines Fortschritts auch auf politischem Gebiet.

Der entscheidende Wandel im Abrüstungsdenken der Sowjetunion ist nun darin zu sehen, daß man große Anstrengungen unternimmt, um die teohnisch-wissenschaftlichen Probleme eines möglichen Abrüstungsabkommens zu lösen. So hat zum Beispiel die sowjetische Akademie der Wissenschaften vor einem Jahr eine Studiengruppe für die wissenschaftlichen Aspekte der Abrüstungsfrage gebildet, die eifrig an der Arbeit ist. Mehr noch: da die amerikanischen Abrüstungswissen-sohaftler den sowjetischen weit voran sind, halten es diese nicht unter ihrer politischen und nationalen Würde, von jenen zu lernen. Professor Glagolev, mit dem wir uns in Moskau darüber unterhielten, hat ausgedehnte1 Reisen nach Amerika unternommen, um Kontakt mit seinen amerikanischen Kollegen aufzunehmen, und zwischen sowjetischen und amerikanischen Abrüstungsspezialisten findet ein dauernder Mei-nungs- und Publikationsaustausoh statt.

Aber Glagolev ist nicht der einzige, der über den Ozean fliegt. An der Universität Leningrad ist ein besonderer Lehrstuhl für die völkerrechtlichen Probleme der friedlichen Koexistenz und der Abrüstung errichtet worden. Der gegenwärtige Dekan der juristischen Fakultät, Professor Malinin, erklärte uns dazu:

„Wir arbeiten dauernd an Publikationen über die Probleme der friedlichen Beziehungen zwischen den Staaten, und ich selbst habe ein Buch über Abrüstungsfragen geschrieben, das in nächster Zeit erscheinen wird. loh war — ebenso wie einige meiner Kollegen — auch in den Vereinigten Staaten und habe dort mit amerikanischen Professoren Kontakt aufgenommen, die sich ebenfalls mit Abrüstungsfragen beschäftigen, so etwa mit Professor Louis Sohn (dem Autor des berühmten „Zonenplanes“, der in etwas veränderter Form zu einem Be-standteü der offiziellen amerikanischen Abrüstungsvorschläge geworden ist).

Wir haben weiter hier in der Sowjetunion unter den Völkerrechtlern ein Komitee für Abrüstungsfragen gebildet, wobei wir die politischen, historischen, ökonomischen, völkerrechtlichen Aspekte der Abrüstungsfragen gemeinsam untersuchen. Wir führen regelmäßig Konferenzen über Abrüstungsfragen durch und unterbreiten dann deren Ergebnisse unserer Regierung.

Ich selbst gehe in meinen Publikationen von dem Gedanken aus, daß die Abrüstung im internationalen Recht schon heute eine Norm darstellt, und zwar dank dem Artikel 18 des UNO-Statuts, der eine solche Verplichtung zur Förderung der Abrüstung enthält. Nach meiner Auffassung verletzt ein Staat, der sich weigert, ein *■ Abrüstungsabkommen zu unterzeichnen, das Völkerrecht.“

An diesen Erklärungen — die von einigen Kollegen Professor Malinins ergänzt und unterstützt wurden — ist mancherlei erstaunlich. (Nur nebenbei: daß es diesen Professoren ernst ist mit dem Gedanken der Abrüstung, kann man, wenn man mit ihnen diskutiert hat. nicht bezweifeln.) Zunächst: Diese Erklärungen beweisen, daß man in der Sowjetunion daran ist, das rein deklamatorische, propagandistische Stadium der Abrüstungspolitik zu überwinden. Vor allem aber: man beginnt einzusehen, daß es nicht allein um Abrüstung, sondern auch um eine völkerrechtliche, politische Institutionalisierung des Friedens geht. Ja, daß Abrüstung ohne den Aufbau eines politischen Friedenssystems wohl überhaupt nicht möglich ist. Allein die Tatsache der Errichtung eines Lehrstuhls für friedliche Koexistenz an der Universität Leningrad beweist, daß man den Gedanken einer gewaltsamen Weltrevolution ersetzt hat durch den Gedanken einer Sicherung des Friedens in der Welt auf der Grundlage des Kräftegleichgewichts zwischen Ost und West.

Gewiß sind die Mitglieder des Komitees der sowjetischen Völkerrechtler für Abrüstungsfragen nicht identisch mit den Herren des Kreml oder dem Präsidium des Zentralkomitees des Partei. Aber allein die Tatsache, daß sowjetische Professoren des Völkerrechts ein Komitee für Abrüstungsfragen gebildet haben und auch die sowjetische Akademie der Wissenschaften heute über eine entsprechende Studiengruppe verfügt, weist auf eine weitere wichtige Entwicklung hin: es beginnen sich nun offensichtlich auch in der „totalitären“ Sowjetunion außerhalb des engen Rahmens von Partei und Regierung, gewissermaßen auf privater Basis, Gremien zu bilden, die sich mit hochpolitischen Fragen beschäftigen. Gewiß geschieht das mit Wissen oder vielleicht sogar im Auftrag der Regierung und gewiß mag die Einflußmöglichkeit solcher Gremien auf Partei und Regierung gering sein. Aber trotzdem muß man es als bemerkenswerten Fortschritt deuten, daß ohne direkte Regierungs- oder Parteikontrolle ein intensiver Gedanken- und Meinungsaustausch zwischen sowjetischen und amerikanischen, britischen, französischen Wissenschaftlern über Abrüstungsfragen stattfindet, die sowjetischen Wissenschaftler dann untereinander weitere Diskussionen führen und das Ergebnis ihrer Besprechungen und Arbeiten schließlich der Regierung zur Verfügung stellen.

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