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Vor den Toren Wiens

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Noch vor nicht allzu langer Zeit ■war es leicht, die osteuropäischen Volksdemokratien nach ihrem ideologischen und wirtschaftlichen Kurs genau ein- und sogar abzustufen: Polen durfte als jenes Land bezeichnet werden, welches sich der überwiegend nichtkommunistischen Bevölkerung gegenüber am weitgehendsten tolerant verhielt. Kädärs Ungarn machte seit der Niederschlagung des Volksaufstandes eine nicht zu übersehende Wandlung und Abkehr von den Terrormethoden zu einer geistigen Liberalisierung durch, während alle übrigen Staaten — Albanien, Bulgarien, Rumänien, die Tschechoslowakei und vor allem die deutsche Sowjetzone — nicht oder kaum vom Sog der Bewältigung der stalinistischen Vergangenheit mitgerissen wurden.

Die Spaltung des homogen scheinenden ideologischen Lagers durch den Streit Moskau—Peking blieb auch in Osteuropa nicht ohne Nachwirkungen. Wenn wir daher heute eine Ranglistenordnung aufstellen wollen, ergeben sich in der bisherigen Einstufung große Verschiebungen. Albanien gehört — darüber kann kein Zweifel bestehen — eindeutig zum chinesischen Lager. Wie müssen aber die anderen osteuropäischen Satelliten nach dem Wert ihrer Moskauhörigkeit eingestuft werden? Schon der Begriff eines „Satelliten“ hat nur noch eine beschränkte Geltung: der große Riß an der Spitze machte zentrifugale Kräfte frei, und der aufkommende Nationalismus manifestierte eine immer stärker werdende Los-von-Moskau-Tendenz. Von dieser wurde am ehesten Rumänien ergriffen. Nach seiner ideologischen Grundlage ist dieses Land nach wie vor als das den härtesten kommunistischen Kurs verwirklichende in Osteuropa zu bezeichnen. Wirtschaftlich jedoch entfernt es sich rapid von der Oberhoheit Moskaus und versucht, den eigenen Reichtum für sich zu behalten und durch westliche Hilfe eine wohlfunktionierende Industrie auszubauen. Scheinbar mit Erfolg, dehn nach den soeben erlassenen statistischen Daten ist Rumänien das einzige Land in Osteuropa, das für das abgelaufene Wirtschaftsjahr große wirtschaftliche Erfolge aufweisen kann. Ostdeutschland ist und bleibt ein künstliches Gebilde des stalinistischen Terrors. Seine „Führer“ sind Marionetten der jeweiligen Moskauer Herrscher. Von einer eigenen Ideologie, von einem bodenständigen sozialistischen Geist kann in diesem Bereich hinter der Mauer nicht die geringste Rede sein. Schwerer beginnt es zu werden, wenn man seine Analyse bei Bulgarien anstellt. Die längst fällig gewesene Säuberung der Altstalinisten wurde hier durchgeführt: allerdings ist die Entwicklung zu einem liberalen Regime in den Anfängen steckengeblieben. Die traditionelle Russenliebe der Bulgaren steht hier der „Balkanisierung“ der kommunistischen Ideologie eindeutig im Weg.

Damit wäre die negative Auslese abgeschlossen. Übriggeblieben sind drei Länder, deren Völker ihre Zugehörigkeit zum westlichen Gesinnungsbereich auch in ihrer ideologischen Wandlung demonstrieren. Fangen wir vielleicht mit Ungarn an, denn aus diesem Land sind die meisten Positiva zu berichten. Gleich an die Spitze der Betrachtungen muß die Person des ersten Mannes in diesem Staat gestellt werden. Jänos Kädär, vor knapp sieben Jahren noch zu Unrecht der meistgehaßte Mann seines Volkes, wuchs über sich hinaus und kann trotz seiner mehr als zwielichtigen Rolle, die er 1956 gespielt hatte, heute bereits zu den positivsten Persönlichkeiten des ungarischen Gegenwartsgeschehens gezählt werden. Er wird auch von seinen Gegnern nicht nur geschont, sondern auch geachtet, ja sogar geliebt. Er übernahm in Osteuropa jene Rolle, für die einst Gomulka prädestiniert war, nämlich ein Volkstribun zu sein, der die Wünsche Moskaus getreu durchführt, ohne dabei die nationale Würde zu vergessen, und der — wenn es sein muß — bereit ist, gegen die Wünsche des Kremls in Opposition zu gehen. Das Land unter Kädärs Führung wirkt konsolidiert, so daß er als Realpolitiker bereits ruhig an den Abbau des Eisernen Vorhanges entlang unserer Grenzen und an die Verabschiedung der sowjetischen Besatzungskräfte schreiten könnte, ohne seine Position besonders zu gefährden.

Zu ersterem Schritt entschloß sich nämlich zumindest bildlich die Tschechoslowakei. Die weite Öffnung der Grenzen für westliche Touristen — die bisher insgesamt als potentielle Gefahr angesehen und behandelt wurden — hat keine wie immer auch geartete Erschütterungen des wohldurchdachten und organisierten kommunistischen Staatsgebäudes mit sich gebracht.

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