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Zwei Stiefkinder Dehios

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Das „Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler“, das der baltendeutsche Kunstgelehrte Georg Dehio in opfervoller, bahnbrechender Arbeit vor Jahrzehnten schuf, hat dem deutschen Volke die wesentlichsten Kunstschätze seiner Heimat, soweit sie sich außerhalb der Museen an ihren ursprünglichen Standorten erhalten hatten, in sorgfältiger Auswahl mit kurzen, treffenden Charakteristiken erschlossen und ihm so zum geistigen Eigentum gegeben; erst seit dem Erscheinen dieser Bände kann von einer kunstgeschichtlichen Volksbildung die Rede sein.

1933 haben Dagobert Frey und Karl Ginhart begonnen, nach diesem Vorbilde die Kunstschätze Oesterreichs in analoger Weise der Oeffentlichkeit zu erschließen. Wir alle haben diese Dehio-Bände auf Kunstwanderungen dankbar zu Rate gezogen. Nicht allein Laien haben aus ihnen erste Belehrung empfangen; auch die Fachwissenschaft hat aus ihnen wichtigste Anregungen geschöpft.

Die Veränderungen, die der öffentliche Kunstbesitz ständig durch Verluste und Zerstörungen, aber auch durch Funde und neue wissenschaftliche Entdeckungen erfährt, machen eine fortgesetzte Neubearbeitung dieser Handbücher notwendig. Die Bedeutung, die diese allerwichtigsten kunstgeschichtlichen Werke für das Wissen des Volkes besitzen, machen diesen Erneuerungen höchste Zuverlässigkeit und Klarheit zur unabdingbaren Pflicht. Während in der deutschen Bundesrepublik diese Arbeit in den HäYiden von Ernst Gall und seiner Mitarbeiter liegt, also von Privaten besorgt wird, zeichnet in Oesterreich hierfür das „Institut für österreichische Kunstforschung“ des Bundesdenkmalamtes verantwortlich, tragen die Neubearbeitungen des „Dehio“ mithin amtlichen Charakter.

Nachdem die letzte Phase des vergangenen Krieges die Fortführung dieser Arbeiten gehemmt hatte, liegen uns nun von beiden Seiten der Staatsgrenze jene Dehio-Bände in Neuauflagen vor, deren Ueber-holung die dringlichste war: Für unsere Heimat der Band „Salzburg“ (1954), für Deutschland der Band „Oberbayern“ (1952). Beide wurden seit ihrem Erscheinen von scharfer Kritik betroffen, weshalb sie auch an dieser Stelle sachlich beurteilt werden müssen.

Beide Nachkriegs-Dehios haben leider im Drange, die betreffenden Kunstdenkmäler tunlichst vollständig zu erfassen, die Grenze überschritten, die zwischen einem Handbuche, das den Laien zum Wesentlichen des Kunstbesitzes führen soll, und einer Kunsttopographie besteht, die wesentlich für die Fachforschung den Kunstbestand restlos ausschöpfen muß. Leider blieben die beiden neuen Bände „Salzburg“ und „Oberbayern“ nicht Handbücher, sondern wurden durch Neubearbeitungen zu Kunsttopographien im Taschenformat erweitert; der kunstfreudige Laie steht ihnen ratlos gegenüber, da er darin Wichtiges und Unwichtiges nicht klar unterschieden findet. Der Band „Oberbayern“ vermehrt diesen Mißstand dadurch, daß er die einzelnen Kunststätten nicht mehr in alphabetischer Reihenfolge behandelt, sondern so, wie sie an den Landstraßen nebeneinander liegen — durchaus unpraktisch; die Benützung des Bandes erfordert ständig langweiliges Nachschlagen.

Der Neubearbeitung der beiden besprochenen Dehio-Bände ging, so wird uns versichert, eine Bereisung der Arbeitsgebiete durch Fachleute voraus; daher hat man von den Neuauflagen nicht primär größere Ausführlichkeit, wohl aber vollständige sachliche Richtigkeit erwartet. Diese Bereisungen müßten wohl auch zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen geführt, neue Meisterbestimmungen und Datierungen erschlossen haben, kurz wissenschaftlich ertragreich gewesen sein, wozu allerdings nicht bloß liebevolle vergleichende Beobachtung, sondern auch Kenntnisse nicht allein der lokalen Kunst erforderlich sind. Zumindest aber mußte man erwarten, daß die Neubearbeiter zu beiden Seiten der Grenze die ihre Arbeitsgebiete betreffende Fachliteratur zur Kenntnis genommen und für ihre Arbeit ausgewertet hätten.

Alle diese selbstverständlichen Erwartungen blieben jedoch in den beiden neubearbeiteten Dehio-

Bänden unerfüllt. Beide Werke sind durch eine Ueberfülle schwerer Irrtümer, Fehler und Auslassungen entwertet, deren Entstehung unerklärlich bleibt, wenn man bedenkt, daß für Oberbayern schon das vorzügliche Handbuch von Dehio selbst, für Salzburg der auf einem Leben voll wissenschaftlicher Arbeit fundierte entsprechende Band von Franz Martin vorlag und nur zu ergänzen war; es wäre überdies Sache des literarischen Taktes gewesen, in beiden Fällen die oft klassischen Beschreibungen wichtigster Kunstwerke, die Dehio und Martin gegeben hatten, nach Möglichkeit pietätvoll beizubehalten.

Schon die simple Aufzählung der Kunstwerke bleibt in den neuen Dehio-Bänden vielfach unrichtig; wer z. B. die am Rande voh Salzburg-Stadt gelegene Kirche Maria-Piain besucht, wird an Hand des neuen Dehio „Salzburg“ erstaunt zahlreiche Unrichtigkeiten und Mißverständnisse feststellen. Wenn der Bearbeiter der bedeutenden oberbayrischen Kunststätte Altmühldorf die aus dem Salzburger Kunstkreise stammende große Kreuzigungstafel der Jahre 1400 irrtümlich als eine „Beweinung“ anführt und sämtliche 1511 entstandenen Altargemälde des W. Beinholt, Werke von europäischem Rang, einfach vergißt, so muß man sich fragen, worin diese „Neubearbeitung“ bestanden hat. Die Bearbeiter zeigten sich zumeist außerstande, Werke von überlokaler Bedeutung zu erkennen, die aus fremden Kunstsphären in ihre Arbeitsgebiete geraten waren und deren richtige Bestimmung wichtiger und interessanter ist als die Feststellung ortsüblicher Durchschnittsleistungen. So wurden in der Rauris (Land Salzburg) die dort zerstreuten Werke des großen Augsburger Renaissancebildhauers Sebastian Loscher übersehen (obwohl sie bereits 1952 publiziert waren), im gleichen Tal die herrliche Sitzmadonna am Fröstlberg nicht als Hauptwerk des Schwaben Hans Waldburger erkannt. Beiderseits der Salzach wurden die Werke Michael Zürns d. J., des großen Wegbereiters G. R Donners, in Rosenheim und Mattsee, die weitaus bedeutendsten Kunstwerke dieser Landstriche, verkannt, obwohl die Mattseer Plastiken schon seit elf Jahren veröffentlicht waren! Die im Erzstifte St. Peter (Salzburg) erhaltenen und vor Jahren in der „Furche“ veröffentlichten Tafelgemälde Ulrich Pockspergers, des bedeutendsten Salzburger Renaissancemalers (1518), wurden im „Dehio“ nicht zur Kenntnis genommen. Leider ging bei den Neubearbeitungen der Blick der Bearbeiter niemals über die Staatsgrenzen hinweg; sonst hätte er unvermeidlich u. a. die Zusammenhänge zwischen den spätgotischen Wölbebauten Salzburgs und des benachbarten, heute bayrischen Landes gewahrt.

Noch mehr: Bei der Neubearbeitung von „Oberbayern“ wurden Erkenntnisse, die zum unabstreit-baren Tatsachenbestande deutscher Kunstgeschichte gehören, hinwegignoriert: Wenn Dehio in seinem Handbuche z. B. sorgsam alle jene herrlichen Madonnen und Pietadarstelltngen erwähnt hatte, die aus Salzburg über die Salzach gekommen sind (Weildorf, Pürten, Gars usw.), so verschweigt die Neubearbeitung diese Herkunft, weist aber die zweifellos niederbayrischen Plastiken des Hochaltars von Rabenden fälschlich nach Salzburg. Wir staunen . . .

Aber nicht wir aHein; wir hören, daß das Bayrische Landesamt für Denkmalpflege die Irrtümer des „Oberbayern“-Bandes in einer Sonderveröffentlichung berichtigen wird. Wird aber in Oesterreich der neubearbeitete „Salzburg“-Band weiter als der Weisheit letzter Schluß gelten?

Wir hoffen, daß diese Fehlleistungen vereinzelt bleiben werden; wir erwarten, daß der fällige Dehio-Band „Schwaben“ in Deutschland, bei uns der in Vorbereitung befindliche Band der Kunsttopographie, der die Kunstschätze Mondsees erschließen soll, mit wissenschaftlichem Ernst von erfahrenen Fachleuten bearbeitet und erst nach sorgsamster Korrektur veröffentlicht werde; das fordert der eminent volksbildnerische Zweck dieser Bücher und die Tradition österreichischer Kunstgeschichtsschreibung. Das Vorbild Dehios und Martins verpflichtet.

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