"Es wird dieses Kind - oder keines!“

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Anna Wieser ist 40 Jahre alt, als ihr Arzt beim Ultraschall die Stirn zu runzeln beginnt. Heute empfindet sie das Dasein ihrer Tochter Fanny als zusätzliche Lebensdimension - und ärgert sich über die Debatten zum "Schadensfall Kind“.

Eigentlich hat sie vorgehabt, sich nicht aufzuregen. Die Argumente sind schließlich weitgehend bekannt, die Protagonisten sowieso. Aber dass die aktuelle Diskussion über die Initiative von Justizministerin Claudia Bandion-Ortner zur Änderung des Schadenersatzrechts in der Geburtshilfe - Stichwort "Schadensfall Kind“ - "so weit an der Sache vorbeigehen“ würde, das habe sie doch aufgewühlt. "Die Spitze war diese ORF-Diskussion Im Zentrum, wo weder Ärztekammer- noch Behindertenvertreter eingeladen waren“, empört sich Anna Wieser. Nur Peter Husslein, Vorstand der Wiener Universitätsfrauenklinik, sei dagesessen - und habe erklärt, dass nur die ärztliche Haftpflicht für Qualität sorgen würde. "Ich hätte ihn gern gefragt, wie viele nichtbehinderte Kinder schon, vorsorglich‘ abgetrieben wurden“, ärgert sich die 57-Jährige. Erst kürzlich habe ihr eine Krankenschwester erzählt, dass sich so manche Behinderungsprognose nach der Abtreibung als falsch erweisen würde. "Wir opfern gesunde Kinder“, sage man ihr im Vertrauen.

Das "Opfern“ von Kindern mit Behinderungen gehört ohnehin zum Konzept. Es ist vor allem das leicht erkennbare Down-Syndrom, nach dem man bei der Pränataldiagnostik Ausschau hält. "Die meisten Behinderungen sind aber pränatal nicht zu sehen, entstehen erst während der Geburt oder danach“, kritisiert Wieser. Doch was bedeutet die Diagnose Down-Syndrom überhaupt? Welches Leben hat ein solches Kind vor sich, das laut "embryopathischer Indikation“ bis zur Geburt straffrei abgetrieben werden darf? Und was durchleben seine Eltern?

Anna Wieser weiß es. Die Bibliothekarin an der TU Wien ist 40 Jahre alt und Mutter eines 16-jährigen Sohnes, als sie erneut schwanger wird. Es ist ein Wunschkind - die große Chance, gemeinsam mit ihrem neuen Lebensgefährten, den sie nach 17 Jahren in Graz hier in Wien kennengelernt hat, noch ein Kind zu bekommen. Doch in der zwölften Woche legt ihr Arzt plötzlich die Stirn in Falten: "Er hat ziemlich patzig gesagt: Das schaut nicht normal aus!“, erinnert sich die Frau. Sie ist schockiert, fällt in ein schwarzes Loch, doch ihr Lebensgefährte ist ihr eine große Stütze. Schließlich entscheiden sich die beiden für eine Fruchtwasserpunktion, um Klarheit zu haben. Zwei Wochen lang trauern sie, trösten sich und ihre Eltern, die sich "irgendwie genetisch mitschuldig“ fühlen. Doch dann wird es für das Paar Gewissheit: Das ungeborene Kind hat Trisomie 21, einen Herzfehler - und man sagt Ja zu ihm. "Uns war klar“ erzählt die Mutter, "es wird dieses Kind - oder keines!“

Von da an sammeln die Eltern Informationen, vernetzen sich mit der Down-Syndrom-Selbsthilfegruppe - und heiraten. Schließlich wird die kleine Fanny im SMZ Ost geboren und lässt auch die Befürchtungen ihres Halbbruders verschwinden. Natürlich gibt es Sorgen: Die Kleine hat Gelbsucht, wächst bis zur Herzoperation mit sieben Monaten kaum, braucht für vieles länger, hat orthopädische Probleme. Doch die größte Angst, dass sich mit der Geburt dieses Kindes das Leben aller ändern würde, erweist sich als unbegründet.

Fanny ist ein Jahr alt, als ihre Mutter wieder zu arbeiten beginnt und der Vater ihre Betreuung übernimmt. Mit zwei Jahren lernt sie gehen, mit drei kommt sie in den Kindergarten, mit sechs in die Lernwerkstatt Brigittenau, wo Kinder aller Entwicklungsstufen miteinander lernen. Eine ideale Situation, die Fannys Eltern in Mittelschulen vergeblich suchen. Nach einem verheerenden Zwischenspiel besucht das Kind eine katholische Sonderschule und kehrt mit 13 Jahren an den neuen, weiterführenden Zweig in der Brigittenau zurück.

Heute ist Fanny 15 Jahre alt. Sie kann lesen, schreiben, schwimmen und reiten; sie ist Astrid-Lindgren-Expertin und referiert bei den Down-Syndrom-Vorträgen ihrer Mutter an der Krankenpflegeschule am AKH selbst das Kapitel Biografie ("Meine Lieblingsautorin ist Astrid Lindgren - kennen Sie vielleicht!“); und sie wird schon demnächst in einer Bücherei ein Schnupperpraktikum absolvieren. Mit viel Glück wird Fanny hier, in einem Kindergarten oder Altenheim einmal eine Arbeit finden, die ihrem Denken in Rastern entgegenkommt und nicht allzu spitze Ellbogen erfordert.

"Eine bessere Bildungspolitik und Integration in den Arbeitsmarkt würde Kindern mit Down-Syndrom und ihren Eltern viel mehr nützen als die jetzige Schadenersatzregelung“, sagt Anna Wieser. Sie wünscht sich, dass diese Absurdität endet, wonach Ärzte für die Geburt eines Kindes haften, dessen Behinderung sie nicht mutwillig übersehen haben. Und sie hofft, dass Mediziner einen auffälligen Pränatalbefund künftig nicht mehr "wie ein Todesurteil“ verkünden, sondern dass es für die Eltern Zeit und umfassende Informationen gibt.

Wieser selbst hat damals gottlob die nötige Kraft und Unterstützung gespürt, um sich für Fanny zu entscheiden. "Natürlich tut sie mir oft leid, weil sie sich um alles so sehr bemühen muss, oder sie geht mir auf die Nerven, wenn sie etwas ewig extemporiert“, sagt die 57-Jährige lächelnd. "Aber ich hätte mir niemals träumen lassen, wie viel Humor und Reichtum dieser Mensch in unser Leben bringt.“

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