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Dämonisiert, glorifiziert, tabuisiert: Der Inzest hat bis heute nichts von seiner Abgründigkeit verloren.

Von Doris Helmberger

Es ist Liebe auf den ersten Blick, als Patrick S. dieses Gesicht betrachtet: diese blaugrünen Augen, diese schmalen Lippen - genau wie bei ihm selbst. Es ist seine leibliche Schwester, die dem 24-Jährigen am 20. Mai 2000 in Leipzig gegenübersitzt. Patrick S., der bei Adoptiveltern aufgewachsen ist, will endlich seine leibliche Mutter kennenlernen - und fühlt sich sofort zur 16-jährigen Susan K. hingezogen. Ein Phänomen, das nicht aufgetreten wäre, wenn die beiden zusammen aufgewachsen wären. Der junge Mann beschließt zu bleiben - und zeugt mit seiner Schwester vier Kinder. Zwei davon sind körperlich und geistig leicht behindert, ein drittes hat einen Herzfehler, das vierte ist gesund.

Untat Inzest

"Beischlaf zwischen Verwandten" lautet nach Paragraph 173 des deutschen Strafgesetzbuches Patricks Tatbestand. Wäre es in Spanien, Portugal, Belgien oder den Niederlanden dazu gekommen, wäre Patrick unbehelligt geblieben. Sie alle sind Frankreich gefolgt, das Inzest seit 1810 straffrei stellt. Doch nach deutschem Rechtsverständnis geht von inzestuösen Beziehungen eine "familienzerstörerische Wirkung" aus.

Eine Sicht, die Patricks Anwalt nicht akzeptiert. Auch "eugenische Gesichtspunkte" (siehe rechts) seien keine Rechtfertigung für Strafe. Inzest sei ein Verbrechen ohne Opfer, meint der Anwalt - und bringt den Fall vor das Bundesverfassungsgericht. Dieses trifft im März 2008 eine andere Entscheidung: Inzest bleibt strafbar.

Tatsächlich gilt und galt Inzest in den meisten Kulturen als Tabu. Und doch zeigen sich Ambivalenzen - schon beim Blick in die Bibel. So wird etwa im Kapitel 19 des Buches Genesis nüchtern beschrieben, wie die Töchter des Lot ihren Vater mit Wein berauschen, um von ihm schwanger zu werden. Nach dem Untergang Sodoms sind Männer schließlich Mangelware. "Man muss diese Geschichte im Kontext der Genesis lesen", meint Irmtraud Fischer, Professorin für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Graz. Die Geschichte könne einerseits als pejorativer Inzest-Text gelesen werden: "Der Vater redet sich gleichsam auf seine Alkoholisierung heraus und sagt, er sei von den Töchtern verführt worden", meint Fischer. Typisch sei auch die Abgeschlossenheit der Höhle, in der es zum Inzest kommt. Auf der anderen Seite kann die Passage auch als Heldengeschichte zweier Ahnmütter in auswegloser Situation gedeutet werden. Im Buch Levitikus wird Inzest freilich klar gebrandmarkt. "Niemand von euch darf sich einer Blutsverwandten nähern, um ihre Scham zu entblößen", heißt es im Kapitel 18. Diese Grenzen sind nötig geworden, erklärt Fischer: Im sechsten Jahrhundert vor Christus befindet sich das Volk Israel im babylonischen Exil. Um die eigene Identität zu wahren, werden Heiraten innerhalb des Stammes favorisiert. Zugleich muss diese Endogamie mit klaren Inzestregeln begrenzt werden.

Im alten Ägypten sind Geschwisterehen unter Pharaonen zur "Reinerhaltung des Blutes" durchaus häufig. Auch der Hochadel in Europa schätzt bis ins 20. Jahrhundert die Vetternehe - darunter auch das Haus Habsburg.

Gewaltsam herbeigeführter Inzest gilt spätestens im 19. Jahrhundert als Unterschichtenphänomen. "Erst Sigmund Freud holt den Inzest wieder ins bürgerliche Selbstbewusstsein zurück", erklärt die Historikerin Claudia Jarzebowski, die den Sammelband "Historische Inzestdiskurse" mitherausgegeben hat. Für Freud selbst, der dem Inzest-Begehren mit seinem Oedipus-Komplex ein Denkmal setzt, ist anfangs die Hysterie seiner Patientinnen eine Folge väterlicher Verführung. "Doch langsam sind ihm Zweifel gekommen und er hat die Phantasietheorie eingeführt", weiß der Wiener Psychoanalytiker August Ruhs. Nach Claude Lévi-Strauss sei das Inzestverbot notwendig, um den Gegensatz von Natur und Kultur aufrecht zu erhalten. "Der Mensch ist ja auf Grund seiner mangelhaften Instinktausstattung eine zerbrechliche Existenz", erklärt August Ruhs. "Darum muss er durch Kultur nachholen, was ihm von der Natur nicht mitgegeben ist."

Blutschande: Das Wort klingt altertümlich. Mit dem modernen genetischen Wissen lässt sich das Delikt auch nur schwer vereinbaren, meint Thomas Mündle.

Früher dachte man, dass der Charakter einer Person irgendwie mit dem Blut weiter gegeben wird - darauf verweisen archaische Begriffe wie blutsverwandt und blaublütig. Heute wissen wir, dass es nicht der rote Lebenssaft ist, der unsere psychische und physische Vitalität (mit-)beeinflußt, sondern die Gene.

Mehr als 18.500 menschliche Erbkrankheiten kennt die moderne Medizin, wobei bei rund 2700 bekannt ist, welche genetischen Veränderungen sich dahinter verbergen. Jedoch kommen viele dieser Krankheiten sehr selten vor. Ein Grund dafür ist, dass die meisten dieser Erkrankungen rezessiv vererbt werden - das heißt: das Leiden bricht erst dann voll aus, wenn ein Kind das jeweils "kranke Gen" von der Mutter und vom Vater bekommen hat. Deshalb liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein (nicht miteinander verwandtes) Paar ein Kind mit irgendeiner erblichen Beeinträchtigung zeugt, bei "nur" zwei bis vier Prozent. Und selbst wenn Cousin und Cousine ersten Grades ein gemeinsames Baby haben wollen, steigt das Risiko eines Gen-Defekts relativ geringfügig an: auf vier bis acht Prozent. Gegen eine geschlechtliche Beziehung dieser Art hat der Gesetzgeber in Österreich auch nichts einzuwenden (Übrigens: Ganz anders ist dies etwa in Korea, den Philippinen und vielen Balkan-Ländern).

Beischlaf zwischen Bruder-Schwester, Vater-Tochter oder Mutter-Sohn wird hingegen hierzulande gesetzlich geahndet (siehe Infokasten). Vordergründig scheint dies verständlich, weisen doch solche Kinder ein signifikant höheres Risiko für körperliche Fehlbildungen und geistige Retardationen auf. Professor Hans-Christian Duba, Humangenetiker an der Landesklinik in Linz, rechnet mit 16 bis 32 Prozent; Professor Gerd Utermann, Humangenetiker an der Medizinischen Universität Innsbruck, spricht von 30 bis 44 Prozent - je nach Studie.

Leider ist die Sache nicht ganz so einfach. Ja, man könnte sagen, dass gerade der medizinische Fortschritt die Dinge stark verkompliziert hat. Viele Paare suchen etwa eine Beratungsstelle auf, weil einer der Partner weiß, dass in seiner Familie eine genetische Erkrankung vorkommt. Mit einer Gen-Analyse lässt sich oft einwandfrei feststellen, ob Mann oder Frau Träger eines defekten Gens ist - und ob der Partner hier ebenfalls "erblich vorbelastet" ist. In vielen Fällen werden die Mediziner nach einem Test Entwarnung geben können. Manchmal aber wird sich herausstellen, dass beide Partner jeweils das gleiche krankmachende Gen schlummernd in sich tragen. Die Gefahr, dass sie ihr jeweils defektes Gen weitergeben und so ein krankes Kind zeugen, liegt bei 1:4 oder 25 Prozent.

Trotz Erbkrankheit ein Kind

In seltenen Fällen, in denen eine Krankheit dominant vererbt wird (nur ein Gen ist hier notwendig, um die Krankheit auszulösen), liegt die Wahrscheinlichkeit sogar bei 50 Prozent. Franco Laccone von der Medizinischen Universität Wien nennt als Beispiel Chorea Huntington - eine Krankheit, die ab dem 30. Lebensjahr ausbrechen kann (und die früher oder später immer ausbricht) und dann das Gehirn irreversibel schädigt.

In Fällen, in denen der zu erwartende Gen-Defekt bekannt ist, kann man (falls gewünscht) zwar die Geburt eines kranken Kindes durch andere medizinische Techniken wie Pränataldiagnostik oder Präimplantationsdiagnostik - letztere zwar in Österreich verboten, aber im nahen Ausland trotzdem machbar - "vermeiden". Doch darum geht es nicht. Der Punkt ist, dass es diesen "genetisch vorbelasteten" Eltern - im Gegensatz zu einem Inzest-Paar - nicht explizit verboten wird, ein krankes Kind zu bekommen - und das obwohl das Risiko eines Erbschadens vergleichbar groß ist. Ob diesen Eltern das Kinderkriegen überhaupt verboten werden soll, ist freilich höchst fraglich. Sicher ist, dass ein solches Verbot die heutige - auf Freiwilligkeit beruhende - genetische Beratungspraxis grundlegend verändern würde.

Kurzum: Der Staat misst hier derzeit mit zweierlei Maß - und bei Paragraph 211 handelt es sich definitiv um eine eugenische Maßnahme. So ist im Gesetzestext ausdrücklich von "Beischlaf" die Rede. Andere sexuelle Praktiken scheinen folglich erlaubt. Allein die Fortpflanzung ist unerwünscht.

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