Kann dich nicht riechen

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Walter Kohl hat nach einem Sturz mit dem Fahrrad seinen Geruchssinn verloren. Er schrieb darüber ein Buch, in dem der Verlust vor allem in der Begegnung mit Frauen deutlich wird. Das Gespräch führte Regine Bogensberger

Wir treffen uns in einem Wiener Kaffeehaus. Es riecht typisch nach Zigarettenrauch, Kaffee und Apfelstrudel. Das Parfum einer Dame vom Nebentisch ist aufdringlich. Doch Walter Kohl riecht nichts. Seit einem Fahrradunfall im Sommer 1995 hat der Schriftsteller seinen Geruchssinn verloren. Er hadert damit, er vermisst den Geruch am meisten in der Begegnung mit Frauen und beim Sex. Er habe seine Heimat verloren, beklagt er. Um den Verlust allen Riechenden zu erklären, hat Kohl nun ein eindrucksvolles Buch geschrieben. Am Ende des Buches und des Gespräches kommt es mir deutlich in den Sinn: Meine Heimat riecht nach frischem Heu, Moos und Fichtenzapfen.

Die Furche: Herr Kohl, Sie schreiben in Ihrem Buch: „Keinen Geruchssinn zu haben bedeutet, keine Heimat zu haben.“ Sind Sie heimatlos – noch immer?

Walter Kohl: Ja schon. Seit ich nicht mehr riechen kann, gehe ich mit so einem Gefühl durch die Welt, als ob alles irgendwie gleich wäre. Natürlich ist es so, dass ich von diesem Sinn besessen bin, ich sehe jetzt alles durch diese Brille. Indem ich das tue, fühle ich mich immer außerhalb. Wenn man alle fünf Sinne hernimmt – das Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen – dann könnte man sagen, dass mir 20 Prozent an Sinneserlebnissen fehlen. Nach meiner Erfahrung macht der Geruchssinn aber mehr aus als 20 Prozent.

Die Furche: Haben Sie es denn nicht vermocht, über die anderen Sinne eine Art Heimat zu schaffen?

Kohl: Doch. Das hat aber nichts mehr mit Orten zu tun. Es hat mit geliebten Menschen zu tun. Ein Beispiel: Wir haben heuer einen Familienurlaub in Kroatien gemacht, allein auf einer abgelegenen Insel. Das war ein beglückendes Erlebnis. In einem Zusammenhang zu sein, der derart stimmig ist, das würde ich als Heimat bezeichnen.

Die Furche: Sie haben geschrieben, dass mit dem Verschwinden des Geruchssinnes auch die Fähigkeit des Erinnerns nachlasse …

Kohl: Genau. Erinnerungen bestehen immer aus zwei Ebenen, einer rationalen und einer emotionalen. Der zweite Teil ist in meinem Fall völlig weggefallen. Ich habe kürzlich das Kaffeehaus Alt Wien besucht, ich kenne es aus den 80er Jahren, als ich in Wien studierende Freunde besucht habe. Es schaut noch genauso aus wie früher. Aber der Geruch entsteht in meiner Erinnerung nicht mehr.

Die Furche: Das heißt, wenn man riecht, dann entstehen in der Folge alle anderen Bilder, die man von einem Ort oder einer Situation hatte …

Kohl: Nicht nur die anderen Bilder, sondern es entstand in den ersten Jahren nach dem Unfall auch noch eine Art Phantomgeruch – die Erinnerungen an die Gerüche sind nun völlig weg.

Die Furche: Wir sitzen hier, Sie trinken Kaffee, ich trinke Tee und esse Apfelstrudel – wie schmeckt das alles für Sie?

Kohl: Es schmeckt alles gleich. Die Wahrnehmung ist sehr flach geworden. Die Zunge kann ja nur Geschmacksrichtungen (süß, sauer, bitter, salzig und umami – wohlschmeckend) wahrnehmen.

Die Furche: Kaffee schmeckt aber schon anders für Sie als Tee?

Kohl: Nicht wirklich. Kaffee hat eine andere Haptik, schmeckt etwas bitter, aber es ist im Geschmack kein wirklicher Unterschied.

Die Furche: Haben sich bei Ihnen durch den Verlust eines Sinnes andere dafür geschärft?

Kohl: Nein, gar nicht, zumindest nicht so, dass es mir selbst aufgefallen wäre. Es ist so – wenn ich beim Beispiel des Essens bleibe –, dass ich versuche, andere Sinneseindrücke zu gewinnen. Ich esse etwa gerne eine Stelze mit besonders krachiger Kruste oder ich schärfe die Speisen zunehmend stärker.

Die Furche: Im Buch wird der Verlust besonders am Beispiel Frauen und Sexualität deutlich gemacht. Haben Sie im Bereich Intimität und Begegnung mit Menschen den Verlust des Riechens am schlimmsten erlebt?

Kohl: Absolut. Von den Möglichkeiten, andere Menschen wahrzunehmen und ihnen zu begegnen, fehlt mir ein Teil, der durch nichts zu ersetzen ist. Die Möglichkeit zu Glückserfahrungen ist drastisch reduziert.

Die Furche: Vermuten Sie, dass die Bedeutung des Geruchssinns in der Begegnung mit Frauen bei Ihnen auch schon früher stärker ausgeprägt war, oder ist es den anderen Menschen nur nicht so bewusst, wie sehr der Ausdruck „jemanden riechen können“ für „jemanden mögen“ zutrifft?

Kohl: Ich gehe davon aus, das es so ist, auch wenn ich es empirisch nicht belegen kann. Gerüche steuern unser Verhalten und unsere Befindlichkeiten mehr als uns bewusst ist, besonders im Bereich Erotik.

Die Furche: Unter der Krankheit Anosmie (Fehlen des Geruchssinnes) liest man, dass Betroffene von sozialer Isolierung bedroht sind, sie haben Angst vor Eigengeruch. Ist das bei Ihnen auch so?

Kohl: Ich habe das Glück, mit Menschen zusammenzuleben, die mich sozusagen ständig über meinen Eigengeruch informieren. Aber diese Angst ist für mich absolut nachvollziehbar. Ich bin völlig abhängig von meiner Frau: Sie kann mir sagen, ob ich einen Pullover, den ich einmal getragen habe, nochmals anziehen kann, ob ich ein Joghurt, das schon geöffnet wurde, noch essen kann oder ob ich zu viel Rasierwasser aufgetragen habe. Wenn ich doch einmal alleine bin, kann es sein, dass ich die Kleidung sicherheitshalber viel zu häufig wechsle. Oder dass ich umgekehrt darauf vergesse, weil ich in meine Arbeit vertieft bin, und erst an den Reaktionen der anderen Menschen merke, ob ich etwa nach Schweiß rieche.

Die Furche: Hoffen Sie noch, irgendwann wieder riechen zu können?

Kohl: Nein. Die Nervenstränge wurden beim Unfall durchtrennt. Ärzte erklärten mir, dass es vorkommen kann, dass Nervenstränge von selbst wieder zusammenfinden und man dann zumindest ein wenig riechen kann. Aber mit einem Kunststoffteil im Stirnbereich des Schädels ist das unmöglich.

Die Furche: Haben Sie sich also damit abgefunden oder leiden Sie noch darunter?

Kohl: Beides sind zu große Worte. Man kann sich damit nicht abfinden, man kann damit leben. Seit das Buch veröffentlicht wurde, kriege ich viele Mails und Briefe. Und manche schreiben: Seien Sie doch froh, dass Sie nach dem schweren Unfall nicht querschnittgelähmt sind. Bis zu einem gewissen Grad bin ich mir dessen bewusst, im Vergleich dazu ist es ein kleines Leiden. Auch das Wort „Leiden“ erscheint mir zu groß. Im Buch verdichtet sich die Auseinandersetzung stark, es werden vor allem die Lebensphasen aufgezeigt, wo es wirklich Leiden darstellte. Aber dass ich permanent darunter leiden würde, das würde ich nicht sagen.

Die Furche: Macht es Sie wütend, wenn jemand so etwas schreibt: Sie sollen dankbar sein, dass Sie nicht querschnittgelähmt sind, und Ähnliches?

Kohl: Nein. Ich habe Phasen, wo ich selbst darauf vergesse, dass ich nicht riechen kann.

Die Furche: Eine extreme Frage. Wenn Sie es sich aussuchen hätten können: Auf welchen Sinn hätten Sie dann verzichtet?

Kohl: Im Buch habe ich geschrieben, dass ich auf den Sehsinn eher verzichten wollte. Das habe ich aus der damaligen Befindlichkeit heraus geschrieben. Das würde ich heute so nicht mehr sagen. Sehen macht doch einen großen Teil dessen aus, was ich bin. Ich könnte nur mehr eingeschränkt schreiben. Ich glaube, ich würde auf den Sinn des Tastens verzichten. Denn diesen hat man am ganzen Körper. Er kann eigentlich nicht hundertprozentig ausfallen. Wenn der Tastsinn komplett wegfiele, wäre man entweder im Koma oder tot.

Walter Kohl wurde 1953 in Linz geboren. Er ist Journalist und lebt heute als freier Schriftsteller in Eidenberg, Oberösterreich.

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