Seismographen der Umwelt

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Die Bereitschaft unserer Gesellschaft, verhaltensauffälligen Kindern mit therapeutischen Maßnahmen zu helfen, nimmt ab.

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Die Bereitschaft unserer Gesellschaft, verhaltensauffälligen Kindern mit therapeutischen Maßnahmen zu helfen, nimmt ab.

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Rund 300 Kinder leben allein in Wien - im Alter bis 15 Jahren - mehr oder weniger auf der Straße und glauben von Prostitution, Bettelei und Kleinkriminalität leben zu müssen." Diese erschreckenden Zahlen präsentierte Ernst Tatzer, Direktor des Zentrums Hinterbrühl und Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde und Neuropsychiatrie, vergangene Woche bei dem Symposium "Schlimm verletzt" in Wien. Zahlreiche Experten diskutierten einen Tag lang zu dem Thema "Dissozialität - Ausdruck unserer Gesellschaft".

Tenor der Veranstaltung: Psychisch auffällige Kinder und Jugendliche brauchen unsere Solidarität und unsere Hilfe. Sie benötigen Betreuung und Therapie. Doch die Budgets für die Betreuungseinrichtungen von psychisch auffälligen Kindern, klagt Tatzer, werden real immer kleiner. Neue Wege würden von vornherein als unfinanzierbar abgelehnt, Zentralismus und Bürokratismus blockieren Entscheidungen endlos. Der Kampf um die immer knapper werdenden Mittel führe zu einer Entsolidarisierung der Helfer. "Es kommt zu einem immer größeren Auseinanderklaffen von unserem Wissen darüber, was zu tun wäre und den vorhandenen Möglichkeiten und Ressourcen", so der Arzt und Therapeut Tatzer.

Unbequeme Botschaft Daß eine stärkere Bereitschaft zur Hilfe für psychisch auffällige Kinder Not tut, zeigt auch die Ausstellung "Bilder wunder Kinder", die derzeit im Looshaus in Wien zu sehen ist.

Mehr als 200 Bilder und Objekte aus der therapeutischen und pädagogischen Arbeit des NÖ Heilpädagogischen Zentrums Hinterbrühl geben einen tiefen Einblick in das Seelenleben von Kindern, die sonst für das, was sie bewegt, keine Sprache haben. Kinder, die glauben, daß sie alles, was ihnen wirklich nahe geht, hinter einer Fassade der Ablehnung, des Schweigens oder der aggressiven Abwehr und Zerstörung verstecken müssen.

Besonders verletzte Kinder tendieren dazu, ihre Emotionen abzuwehren, sie zu verdrängen und zu verleugnen - wodurch ihre Weiterentwicklung gehemmt wird. Diese Blockade kann durch Malen durchbrochen werden. Malen ist ein weitgehend unbewußter Prozeß. Durch Farben, Formen und durch die Bildkomposition werden Ängste, Aggressionen und Wünsche zum Ausdruck gebracht. Das Nichtbenennbare verliert dadurch ein wenig von seinem Schrecken.

"Diese Ausstellung läßt auch erahnen, was aus diesen Kindern und Jugendlichen werden kann, wenn man ihnen nicht hilft, mit ihren Ängsten und Enttäuschungen, ihrer Ohnmacht, ihrem Leid und ihrer Wut umzugehen", kommentiert Tatzer die Ausstellung. Auffällige Kinder seien wie Seismographen für eine nicht befriedigende Umwelt. "Sie reagieren auf Spannungen und Probleme, die letztendlich uns alle betreffen. Diese Botschaft ist unbequem," so Tatzer und folgert daraus: "In unserem Land sind Kinder eine Minderheit. Und die Minderheit dieser Minderheit - die Kinder mit seelischen Verletzungen - wird zu oft bewußt übersehen."

Der Direktor des Zentrums Hinterbrühl fordert einerseits gesellschaftliche Bedingungen herzustellen, die eine gesunde Entwicklung der Kinder sicherstellen, andererseits Wege und Möglichkeiten zu etablieren, über die wir helfen können, Kindern, die in ihrer Entwicklung verwundet worden sind, effizient zu unterstützen. Tatzer klagt in diesem Zusammenhang über die Tendenz, daß die Bereitschaft unserer Gesellschaft, diesen Kindern mittels therapeutischen Maßnahmen zu helfen, immer mehr abnehme. Hier werde am falschen Punkt gespart, so der Arzt und Neuropsychiater. "Dieses Sparen wird sehr, sehr teuer. Denn drei Viertel unserer Kinder führen wir wieder in die Familien zurück, das ist eine sehr gute Erfolgsquote, die uns so schnell keiner nachmacht. Das wird jedoch nicht honoriert."

Ein weiteres Ziel der Ausstellung ist, die vorherrschende Einstellung der Gesellschaft gegenüber verhaltensauffälligen Kindern zu ändern. Denn, bedauert Tatzer, psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter werden noch immer bagatellisiert, sie werden als schlimmes und störendes Verhalten, an dem der Betroffene selbst schuld ist, abgetan. Noch immer bestehe in der breiten Öffentlichkeit die Meinung, das Mittel zu ihrer Beherrschung und Behandlung sei Disziplin und nicht Hilfe und Therapie. Tatzer: "Wachsende Intoleranz gegenüber diesen Kindern und Jugendlichen, wie auch gegenüber anderen Randgruppen, läßt das gesellschaftliche Klima zunehmend kälter werden. Die Gesellschaft muß sich dieser Problematik bewußt werden, will sie nicht Verhältnisse schaffen, in denen es zunehmend gefährlicher wird, ein Kind zu sein."

"Das Schlimmsein ist eine besondere Ausdrucksform für Ängstlichkeit und dafür, daß ein Kind mit anderen Menschen nicht zurecht kommt", ist auch Franz Resch von der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg überzeugt.

Generell bevorzugen Knaben beim Ausleben ihrer Aggressionen direkte Formen, Mädchen eher indirekte, wie zum Beispiel Ausgrenzung und Gerüchte. Kinder, die vermehrt aggressiv sind, haben weniger Selbstwertgefühl und glauben mit Aggressivität Konflikte beenden zu können, so Resch: "Aggressive Kinder haben von anderen die Meinung, daß diese unglaubwürdig, feindlich und potentiell gefährlich sind, wobei sie der Fehleinschätzung unterliegen, daß die Anwendung von Gewalt die Eskalation der Auseinandersetzung unterbrechen könnte." Der therapeutische Zugang, fordert Resch, sollte daher nicht durch einen weiteren Anstieg von Gewalt gekennzeichnet sein, sondern im Vordergrund müßte "Therapie statt Strafe" stehen.

DIE AUSSTELLUNG "Bilder wunder Kinder" ist noch bis Samstag, 11. Dezember im Looshaus, Michaelerplatz 3, 1010 Wien zu sehen. Öffnungszeiten: Montag, Mittwoch, Freitag, Samstag, 10 bis 17 Uhr 30, Dienstag und Donnerstag, 11 bis 19 Uhr.

Dienstag, 7. Dezember, 19 Uhr, Künstlerabend mit Karl Hodina.

Freitag, 9. Dezember, 19 Uhr, Vortrag von Ingrid Riedel zum Thema "Kunst als Botschaft der Seele aus der Sicht der Psychotherapie".

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