Flüchtlingskind, Junger Flüchtling, unbegleiteter Minderjähriger - © Canva

Wenn Kinder verschwinden: Wo sind die minderjährigen Flüchtlinge?

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In Österreich sind tausende unbegleitete Minderjährige ohne Obsorge. Welche Folgen das für die Betroffenen hat, erklärt Sozialanthropologin Lisa Wolfsegger im Gespräch.

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In Österreich sind tausende unbegleitete Minderjährige ohne Obsorge. Welche Folgen das für die Betroffenen hat, erklärt Sozialanthropologin Lisa Wolfsegger im Gespräch.

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Niemand weiß, was mit den tausenden minderjährigen Flüchtlingen passiert, die jährlich in Österreich aus den offiziellen Statistiken des Bundes verschwinden. Im Interview spricht Fluchtwaisen-Expertin Lisa Wolfsegger darüber, wieso es ausgerechnet in Österreich so viele Asylwaisen gibt und woran notwendige Reformen scheitern.

DIE FURCHE: Im Vorjahr sind in Österreich 11.613 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge verschwunden. Was ist mit diesen Kindern und Jugendlichen passiert?
Lisa Wolfsegger: Man weiß es nicht, weil dieser Frage niemand genauer nachgeht. Der Grund des Verschwindens hat mehrere Ursachen. Einerseits haben die Kinder und Jugendlichen vielleicht Verwandte in anderen EU-Ländern und wollen weiterziehen. Diese Kinder wird man auch nicht aufhalten können – aber man könnte sie unterstützen, legal zu Verwandten zu kommen. Andere verschwinden, weil sehr viele Gerüchte in Umlauf sind, etwa dass Österreich keine Afghan(inn)en aufnehme. Was nicht stimmt, weil jede Person aus Afghanistan, die einen Asylantrag in Österreich stellt, zu nahezu 100 Prozent einen Asyl- oder Schutzstatus erhält. Genauso gibt es das Gerücht, dass du als Minderjähriger generell keinen Status bekommst – was auch nicht stimmt. Und die andere Gruppe verschwindet, weil die Betreuung in den Erstaufnahmezentren so schlecht ist.

DIE FURCHE: Das müssen Sie erklären: Was passiert, wenn ein unbegleiteter Minderjähriger in Österreich Asyl beantragt?
Wolfsegger: Das Prozedere ist dasselbe wie bei allen anderen Asylwerber(inne) n. Die meisten der Jugendlichen kommen – wie auch die Erwachsenen – in Erstaufnahmezentren wie Traiskirchen. Dort fängt das Asylverfahren an. Solange sie dort sind, sind sie ohne Aufsicht, es übernimmt niemand die rechtliche Obsorge. Und erst wenn in einem Quartier der Bundesländer ein Platz frei wird, können sie das Erstaufnahmezentrum verlassen. Die Einrichtungen in den Bundesländern werden von NGOs betrieben, dort ist die Betreuung deutlich besser und die Minderjährigen bekommen einen Obsorgeberechtigten.

DIE FURCHE: Wie lange dauert es im Schnitt, bis minderjährige Flüchtlinge die Erstaufnahmezentren verlassen können?
Wolfsegger: Es gibt keine bestimmte Zeit und es ist bei jedem Jugendlichen anders, sobald ein Platz frei wird, kann in den Bundesländern nachbesetzt werden. Laut einer parlamentarischen Anfrage dauert es im Schnitt 131 Tage, aber das ist ein Durchschnittswert, es kann auch sehr viel länger dauern, bis zu einem Jahr oder länger. Das heißt, Fluchtwaisen sind oft über Monate hinweg in einer Einrichtung, in der es keine ausreichende Betreuung gibt. Es gibt keine ausreichende Schule, es gibt wenig Tagesstruktur, da sind mehrere hundert Jugendliche untergebracht, es fehlt ihnen die Perspektive. Es gibt vor allem niemanden, der Verantwortung für die Kinder übernimmt, die Kinder bekommen keine rechtliche Obsorge – was es sonst in keinem EU-Land gibt.

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