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Deutschland, Polen und Europa

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In den letzten Wochen wurde die Weltöffentlichkeit durch die Reden polnischer Bischöfe, nicht zuletzt des Kardinals von Warschau, auf die brennende Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen aufmerksam gemacht. Polens Bischöfe sind der Ansicht, daß in Bonn ein alter deutscher Militarismus vordränge, und vertreten dieselbe Uberzeugung wie die Redaktionsgemeinschaft von „Wiez“, die auf Einladung der „Furche“ am 3. September den Standpunkt dieser polnischen Katholiken hier zur Diskussion stellte. Leider war es damals, zu unserem Bedauern, nicht möglich, sofort die deutsche Antwort zu bringen, der von uns gebetene deutsche Partner war beruflich überlastet und stellt sich erst jetzt zum Gespräch. Wir glauben jedoch, daß gerade die von polnischer Seite weiterhin vorgetragenen schweren Bedenken dem Wort dieses bekannten deutschen katholischen Publizisten eine erhöhte Aktualität geben. Prof. Smolka hat sich nach 194$ besonders um die deutsch-französische Begegnung verdient gemacht. Seine Antwort an die polnischen Glaubensgenossen und politischen Gegner zeigt, wie ernst ihm die noch ungleich schwierigere, noch belastetere Begegnung zwischen Deutschen und Polen ist. Wir in Österreich haben die Verpflichtung, unsere Neutralität nicht zuletzt in diesem Sinne positiv einzusetzen. „Die Furche“

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In den letzten Wochen wurde die Weltöffentlichkeit durch die Reden polnischer Bischöfe, nicht zuletzt des Kardinals von Warschau, auf die brennende Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen aufmerksam gemacht. Polens Bischöfe sind der Ansicht, daß in Bonn ein alter deutscher Militarismus vordränge, und vertreten dieselbe Uberzeugung wie die Redaktionsgemeinschaft von „Wiez“, die auf Einladung der „Furche“ am 3. September den Standpunkt dieser polnischen Katholiken hier zur Diskussion stellte. Leider war es damals, zu unserem Bedauern, nicht möglich, sofort die deutsche Antwort zu bringen, der von uns gebetene deutsche Partner war beruflich überlastet und stellt sich erst jetzt zum Gespräch. Wir glauben jedoch, daß gerade die von polnischer Seite weiterhin vorgetragenen schweren Bedenken dem Wort dieses bekannten deutschen katholischen Publizisten eine erhöhte Aktualität geben. Prof. Smolka hat sich nach 194$ besonders um die deutsch-französische Begegnung verdient gemacht. Seine Antwort an die polnischen Glaubensgenossen und politischen Gegner zeigt, wie ernst ihm die noch ungleich schwierigere, noch belastetere Begegnung zwischen Deutschen und Polen ist. Wir in Österreich haben die Verpflichtung, unsere Neutralität nicht zuletzt in diesem Sinne positiv einzusetzen. „Die Furche“

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Es wird keinen katholischen Christen geben, der heute nicht mit Freude die Gelegenheit ergreift, mit polnischen Katholiken ins Gespräch zu kommen. Das gilt vollends für uns deutsche Katholiken, die wir uns klar darüber sind, wie vieles heute Polen und Deutsohe voneinander trennt. Wir können darum nur von Herzen dankbar dafür sein, daß die Schriftleitung des „WiQz“ die hochherzige Initiative zu einer Fühlungnahme ergriffen hat. Und nicht minder herzlicher Dank gebührt der Schriftleitung der

„Furche“ dafür, daß sie sich bereit erklärt hat, ihr Blatt für diesen Gedankenaustausch zwischen polnischen und deutschen Katholiken zur Verfügung zu stellen. Trotzdem gestehe ich, daß ich nicht leichten Herzens der Einladung gefolgt bin auf die Ausführungen des Redaktionsteams des „Wi z“ zu antworten. Zwar glaube ich, manche Voraussetzungen dafür mitzubringen. Dahin gehört die Kenntnis der polnischen Sprache, die ich als Erwachsener lernte, und der polnisch-deutschen Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, die ich mir in einem langjährigen, ganz persönlich motivierten Studium verschafft habe. Ich bin ferner ziemlich früh zu der Überzeugung gelangt, daß das deutschpolnische neben dem deutsch-französischen Verhältnis von größter Bedeutung für eine wirkliche Rechts- und Friedensordnung in Mitteleuropa und damit in Europa überhaupt ist. Als Schriftleiter der „Dokumente, Zeitschrift für übernationale Zusammenarbeit“, habe ich bis 1955 in diesem Sinne publizistisch zu wirken versucht und tue es noch heute im Rahmen meiner akademischen Lehrtätigkeit. Schließlich und vor allem habe ich seit dem Erwachen me' ics politischen Interesses im ersten Welt-kricj nie begriffen, warum ich als deutscher Katholik bei der Entscheidung einer politischen Gewissensfrage andere Maßstäbe anlegen sollte als jene, die auch für einen katholischen Franzosen oder Italiener oder Polen oder Neger gelten. Es war mir vielmehr seit meiner Jugend gewiß, daß bei der Beantwortung der Frage, was wahr und was gerecht und was erlaubt und was in der Liebe ist, das nationale oder staatliche Interesse für Christen, insbesondere für dre Kinder der einen Kirche, gänzlich bedeutungslos sein müsse: weil es — auch in politicis — keine deutsche oder polnische oder sonstige Moral gibt, sondern nur die eine, die sich gründet auf die Lehre unseres Herrn und Seiner Kirche und ihre Bestätigung durch die Stimme unseres Gewissens.

Die Darlegungen unserer polnischen Gesprächspartner lassen sich in folgende Thesen zusammenfassen:

1. Das deutsch-polnische Verhältnis ist vorbelastet durch ältere, schmerzliche Erfahrungen der Polen mit den Deutschen, die zu vergessen die Polen gleichwohl um der Zukunft willen bereit sind.

2. Zwischen Polen und Deutschen steht heute die Oder-Neiße-Grenze, die von jedem Polen als definitiv betrachtet, von deutscher Seite jedoch angefochten wird.

3. Diese Anfechtung wurde nur durch das Aufbrechen des weltpolitischen Ost-West-Gegensatzes nach 1945 möglich: „Die Verflechtung der deutschen Frage mit dem Ost-West-Konflikt ist ein folgenschweres Ergebnis des kalten Krieges.“ Zu seiner Beendigung würde am besten die Rückkehr der Großmächte zu ihrer Kriegspolitik in der „deutschen Frage“ beitragen. Damit würde eine „Ostverschiebung der deutschen Grenze“ unmöglich gemacht sein.

4. Für Polen sind die vertraglichen Bindungen an den Ostblock „ein grundsätzliches Element der Sicherheit für heute und morgen“. Es ist jedoch bereit, mit Deutschland friedlich zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten. Die unerläßliche Voraussetzung dafür ist die e i n-deutige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch ganz Deutschland.

5. Wenn Deutschland in Frieden mit anderen Ländern zusammenleben will, muß es diese Grenze anerkennen. Deutschland hat den Krieg begonnen und verloren. Es hat die Vorkriegsordnung zerstört und muß darum die Nachkriegsordnung bejahen. Damit — und nur dann — wird eine bessere Zukunft beginnen.

DIE DEUTSCHE ANTWORT Auf jede dieser Thesen wäre viel zu erwidern. Wir müssen uns auf das Notwendigste beschränken:

ad 1. Deutschland hat durch den Überfall auf Polen 1939 und durch unmenschliche Handlungen im besetzten. Polen eine furchtbare Verantwortung auf sich geladen. Alle gegenseitige Versündigung in der Vergangenheit — es hat auch polnischerseits daran nicht gefehlt — verblaßt davor. Kein deutscher Katholik kann leugnen, daß das heutige Deutschland verantwortlich ist für das, was Nazideutschland gesündigt hat. Es gibt zwar für den Christen keine „Kollektivschuld“ außer der Erbsünde; wohl aber eine gemeinsame Haftung im Rahmen der Gruppen und Gemeinschaften, denen er angehört. Wir Deutsche haben seit 1939 eine Wiedergutmachungspflicht gegenüber Polen, die sehr schwer wiegt. Sie wird aber in Zukunft von Menschen erfüllt werden müssen, die, sei es als Jugendliche oder Ungeborene, sei es als wirklich Ahnungslose, an den Verbrechen von 1939 bis 1945 unschuldig waren. Das sollte auch von denen nicht übersehen werden, die auf unsere Wiedergutmachung Anrecht haben. Wir dürfen und müssen aber unsere polnischen Brüder bitten, ernstlich zu prüfen, ob ihr Bild vom Deutschen und von der polnisch-deutschen Vergangenheit richtig ist. Bei allem Willen zur Selbstkritik erscheint uns das herkömmliche polnische Deutschlandbild arg verzerrt und von der geschichtlichen Wirklichkeit denkbar weit entfernt. Der ewig beutegierige Reichsadler, über einem europäischen Hühnerhofe kreisend, der im übrigen von ganz arglosem' und friedfertigem Federvieh wimmelt — diese Karikatur hat mit geschichtlicher Wahrheit nichts zu tun; sehr viel hingegen mit übler Hetzpropaganda, wie sie etwa in jüngster Zeit von offiziellen und sonstigen polnischen Stellen besonders ausgiebig bei der Grünwaldfeier getrieben wurde.

ad 2. In diesem Zusammenhang ist es dankenswert, daß das Schreiben der „Wi z“-Redaktion auf eine „historische“ Begründung des polnischen Anspruches auf die Gebiete östlich der Oder-Neiße verzichtet. Mit gutem Grunde: weil diese Gebiete schon seit sehr langer Zeit, größtenteils seit dem 14. Jahrhundert, aus dem polnischen Staatsverband ausgeschieden waren, und zwar überwiegend ohne Zwang und Eroberung. An dieser historischen Tatsache kann die feierliche Verpflichtung des polnischen Episkopats, für das „historische Recht“ Polens auf diese Gebiete zu kämpfen, ebensowenig ändern wie die wiederholten Erklärungen Kardinal Wyszynskis, der von einem „Siege der historischen Gerechtigkeit“ gesprochen hat und in dieser „historischen Restitution“ ein Wirken der göttlichen Vorsehung erblickt. Da solche und ähnliche Anschauungen im polnischen Katholizismus fast ausnahmslos herrschen, sei die Frage erlaubt, wie unsere polnischen Mitchristen sich eine europäische Neuordnung vorstellen, die auf die politische Landkarte des 13. bis 14. Jahrhunderts zurückgreift.

ad 3. Die Deutschen lehnen den Status quo an der Oder-Neiße ab. Mit einer „Ostverschiebung der deutschen Grenze“ hat diese Ablehnung nichts zu tun, sondern mit einer Westverschiebung der polnischen. Daß dabei die Absicht der Alliierten maßgeblich war, Deutschland auf Dauer zu entmachten, ist bekannt und nach dem vorausgegangenen Krieg begreiflich. Entscheidend ist aber der Wille der Sowjets, sich in Polen wie in Deutschland festzusetzen und zu diesem Zwecke die beiden Nationen tödlich zu verfeinden. Nicht der kalte Krieg hat also die deutsche Frage von heute geschaffen, die — genau besehen — eine deutsche Frage ist, sondern der Sowjetimperialismus dem die Politiker des Westens allzu naiv Vorspanndienste leisteten. Es ist begreiflich, daß die polnischen Katholiken dergleichen nicht aussprechen könnten, sofern sie es meinen. Es ist schwerer begreiflich, daß sie das makabre Spiel nicht durchschauen sollten, das der Kreml mit Polen gespielt hat: zuerst gemeinsam mit Hitler, dann, unter Ausnutzung der Kriegssituation und Kriegsmentalität des Westens, schließlich auf eigene Faust: bis ihm der Westen in den Weg trat, um seiner Selbsterhaltung willen. Unbegreiflich aber ist es, daß polnische Katholiken von der Rückkehr der Großmächte zum „Geiste und den Grundsätzen“ der Kriegskoalition das Heil für Polen und die Welt erwarten. Sie würde nicht nur auf dem Rücken Deutschlands erfolgen, sondern mindestens ebensosehr auf dem Polens; und sie würde die definitive Einverleibung beider in das machtpolitisch-weltanschauliche System Moskaus bedeuten.

ad 4. Die polnische Bereitschaft, mit Deutschland friedlich zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten, wird von deutscher Seite aufrichtig erwidert. Wenn dies polnischerseits von der Anerkennung der heutigen polnisch-deutschen Grenze abhängig gemacht wird, so wird das an unserer Bereitschaft zu friedlicher Zusammenarbeit ebensowenig ändern, wie die bloße Tatsache der Zugehörigkeit Polens zum Ostblock. Wir respektieren das eine wie das andere; und wir können nur hoffen und bitten, daß man auch unsere Haltung und Entscheidung respektiert.

Es gibt in der Deutschen Bundesrepublik nicht wenige Menschen, die zwar die deutschen Lande östlich der Oder-Neiße innig lieben, die aber von Sentimentalität — oder gar von Haß gegen die Polen, die heute dort wohnen, und gegen ihre Nachbarn, überhaupt frei sind. Sie glauben weder an „ewige“ Grenzen noch an die gebieterische Notwendigkeit, daß Nationen dieses oder jenes Stück Erde besitzen müssen, um glückselig — oder auch nur wohlhabend — zu werden. Sie halten Staatsgrenzen im Grunde für einen Anachronismus, jedenfalls innerhalb Europas: schon heute, und vollends morgen. Sie haben wenig übrig für das „Recht auf Raum“, das bisher (zu Unrecht allerdings) als ausschließlich deutsche Spezialität galt, das aber heute, nach dem Brief der „Wi^z“-Redakteure zu schließen, anscheinend auch in Polen ernst genommen wird. Sie bedauern aufrichtig, daß sich durch die Oder-Neiße-Grenze ein Konfliktherd aufgetan hat, der offenbar das Blickfeld der meisten Polen unheilvoll verengt und Nebensächliches zu „grundsätzlicher“ Wichtigkeit aufgebläht hat. Sie halten nichts für wirklich wichtig, als die Freiheit und Würde des Menschen und staatlich-gesellschaftliche Ordnungen, die geeignet sind, beides zu wahren. Und dafür, um sich und anderen das zu sichern, sind sie bereit, ;edes, buchstäblich jedes Opfer zu bringen.

Aber: sie sind nicht bereit, irgendein Opfer zu bringen für Zielsetzungen, die sie nicht nur für hoffnungslos vorgestrig, sondern für

gefährlich und schädlich halten. Um ganz deutlich zu sein: sie haben keinerlei Verständnis für eine Politik der „racja stanu“ (Staatsräson. — D. Red.), die bedenkenlos den eigenen Vorteil mit Recht und Gerechtigkeit identifiziert; für Annektionen, die wahrheitswidrig als „ziemie odzyskane“ (wiedererlangte Gebiete — D. Red.) frisiert werden; für ein partikulares Duodez-Machtdenken im Zeitalter der Weltmächte; oder gar für Zugeständnisse, die auf eine Handlangerpolitik gegenüber den Kräften hinauskommen würden, die über Europa und die Welt nicht minder Furchtbares gebracht haben und noch Furchtbareres bringen könnten als der braune Terror. Sie sind entschlossen, den Henkern von Katyn besser zu widerstehen als denen von Auschwitz.

ad 5. Nicht, weil wir deutschen Katholiken unbelehrbar sind, sagen wir nein zu jedem Versuch, uns im Namen des Rechtes und der Gerechtigkeit etwas abzuverlangen, was mit Gerechtigkeit und Recht nichts zu tun hat; sondern gerade darum, weil wir aus unseren schlimmen Erfahrungen gelernt haben, daß Recht und Gerechtigkeit nicht ernst genug genommen werden können. Das heutige Polen schützt beides vor, um sich einen vermeintlichen politischen Vorteil zu sichern. Wenn es ihm wirklich um Gerechtigkeit geht, soll es in aller Form die Forderung der Wiedergutmachung stellen, zu der es berechtigt ist, und die auch eine territoriale Seite hat. Darüber läßt sich reden; nicht aber über einen pauschalen Verzicht auf der Basis eines willkürlichen Status quo, der nur neues Unrecht auf altes Unrecht häufen würde. Noch einmal: wir sind uns klar darüber, daß unser Verhältnis zu Polen nur um den Preis sehr großer Opfer bereinigt werden kann — und daß auch dann noch zu einer wirklichen Verzeihung ein unerhörter Großmut der Polen gehören würde —, aber auch darüber, daß keinesfalls „ein solcher Versuch ohne Zustimmung der hieran Interessierten (der Polen wie der Deutschen) vorgenommen werden“ sollte.

Es ist wahr: „Deutschland hat den Krieg begonnen und verloren.“ Aber schon der nächste Satz des „Wi z“-Artikels trifft nicht mehr zu. Nicht Deutschland allein hat „die Vorkriegsordnung zerstört“, sondern das Dritte Reich zusammen mit jener Sowjetunion, die sich mit Nazi-Deutschland zur Zerstückelung Polens zusammenfand und die nach der Katastrophe des Dritten Reiches Europa bis zur Elbe brutal vergewaltigt hat. Das von Sowjetsatrapen regierte Ostmitteleuropa und das von Moskau unaufhörlich bedrohte Europa westlich der Elbe: das ist die nackte Wirklichkeit der angeblichen „neuen Ordnung, die auf den Ruinen der alten entstanden ist“. Ihr zuliebe, um diese Ordnung zu zementieren, die keine ist, sondern eine Scheinordnung der Gewalt, sollen wir in aller Form auf die deutschen Ostgebiete von 1937 verzichten. Quod non: dafür nichtf Wir können und wollen niemand daran hindern, seine eigene Wahl zu treffen. Aber wir haben zur Kenntnis genommen, was ein namhafter polnischer Emigrant unlängst schrieb: Bei der Wahl zwischen einem kommunistischen Polen mit den „Westgebieten“ und einem freien Polen ohne sie, werde jeder Pole sich selbstverständlich für das erstere entscheiden. Das ist genau die Gesinnung, die es uns unmöglich macht, jenes Ja auszusprechen, das uns heute von jenseits der Oder-Neiße angesonnen wird.

Genau gesehen ist das letzte Argument unserer polnischen Gesprächspartner die „Macht der Tatsachen“. Wir wissen aus Erfahrung, was dieses Argument taugt: nämlich nichts. Tatsachen verbürgen, wie Metternich einmal schreibt, keine Dauer: eine Ordnung, die sich nur auf sie stürzt, kann in jedem Augenblick stürzen. Eben darum möchte Polen seine bloße De-facto-Herrschaft über die „Westgebiete“ rechtens fundieren. Die Bundesregierung hat in Übereinstimmung mit den Potsdamer Beschlüssen von 1945 stets erklärt, daß die Grenze im Osten durch einen Friedensvertrag festgelegt werden müsse. Es ist darum eine bewußte oder unbewußte Irreführung, ihn oder dem deutschen Volke „grenzrevisionistische Tendenzen.... (die) vor keiner Grenze ... haltmachen, weder im Osten noch Westen noch auch im Süden“ (!), zu unterstellen. Es ist ebenso irreführend, wenn das Beharren der Heimatvertriebenen auf ihrem Heimatrecht — bei wiederholtem feierlichem Verzicht auf jede Gewaltanwendung — als hek tischer Revanchismus oder Revisionismus hingestellt wird; oder wenn uns gar „das Ansinnen auf ein erneutes Herumschieben von ganzen Völkern auf der Landkarte Europas“ insinuiert wird. Man sollte der Wahrheit die Ehre geben. Und da dürfte, aufs Ganze gesehen (und mit dem selbstverständlichen Vorbehalt, daß es überall einige Verrückte gibt), trotz aller interessierten Verzerrung der Wirklichkeit, wie sie keineswegs nur in den Ostblockländern betrieben wird, das zutreffen, was unlängst aus polnischer Feder in der keineswegs besonders deutschfreundlichen Pariser „Kultura“ zu lesen war: „Das Schwinden des Nationalismus, der Europa zugrunde gerichtet hat, ist in Deutschland deutlicher spürbar als anderswo.“

Ob die Deutschen, wie viele Zeitgenossen meinen, schlechtere Menschen sind als die übrigen Europäer, mag dahingestellt bleiben. Sicherlich aber sind sie keine besseren Menschen; und es dürfte sich schon darum nicht empfehlen, sie zu überfordern. Vielleicht — wahrscheinlich ist es nicht — könnte die Bundesrepublik zu jenem formellen Verzicht auf die Ostgebiete gezwungen werden, der vielen Polen heute anscheinend erstrebenswert dünkt. Aber dann dürfte Polen einen Pyrrhussieg davontragen. Er würde unvermeidlich einen neuen

Nationalismus in Deutschland hervortreiben, der Polen kaum im ruhigen Genuß seiner Erwerbungen belassen würde. Und niemand vermag zu sagen, welche Möglichkeiten des Unheilstiftens sich ihm in Zukunft noch eröffnen könnten. Schon darum erscheint es besser und richtiger, nach Lösungen zu suchen, die auch von den Deutschen als recht und billig empfunden werden. Man kann nicht bestreiten, daß die Bundesrepublik dazu bereit ist und daß ihre Regierung auf das Verständnis weiter Kreise des Volkes für eine Politik der Verständigung unter beträchtlichen Opfern rechnen kann. Ihre Unterschrift unter den Status quo aber darf und kann und wird sie nicht geben.

Uns liegt nicht weniger als unseren Nachbarn daran, aus dem Provisorium herauszukommen und in einer wirklich befriedeten Welt zu leben. Der heilige Augustinus hat den Frieden definiert als die Tranquillitas ordinis. Daß es uns und unseren polnischen Nachbarn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelinge, die sua cuique loca zu finden, deren richtige Zuteilung nach St. Augustinus den Ordo ausmacht und damit den Frieden sichert: darum bitten wir deutschen Katholiken gemeinsam mit unseren Brüdern in Polen unseren gemeinsamen Herrn, der der Herr der Geschichte bleibt zu aller Zeit.

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