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Die Folgen bleiben nicht aus

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Die echten Anliegen, deren Durchsetzung auch in unserer Wohl-fabrtsgesellschaft zuweilen nur mittels Streiks möglich ist, gehen im Kunterbunt von unterschiedlichen Streik-argumenten, die nicht immer von einem sozialen Belang sind, unter. Dabei gibt es in den Regionen einer Gesellschaft, die sich eitel „Wohlfahrtsgesellschaft“ nennt, echte Not, absolute und relative Not. Wer leichtsinnig über das Vorhaben der Postler, sich eine kleine Zuwendung zu verschaffen, den Stab gebrochen hat, sollte sich einmal von seinem jungen Briefträger das Nettoeinkommen nennen lassen. Wer weiß, wenn er mit seinem Auto die Kreuzung übersetzt, daß der Mann, det ihn da mit Handzeichen dirigiert, ein monatliches Einkommen hat, das ungefähr den Kosten je Monat eines mittlerem Pkw.s entspricht. Mit den echten Sorgen, mit dem Versuch, den Skandal unzureichender Mindestlöhne zu beseitigen, vermengen sich aber in einem wachsenden Umfang Anliegen, denen nicht unmittelbar, keinesfalls bei der gegebenen wirtschaftlichen Situation, Rechnung getragen werden muß oder kann.

Die Forderungen der Kleinbauern sind vollauf berechtigt. Wer sie vom sozialen wie vom wirtschaftlichen Standpunkt aus bestreitet, verrät weder menschliche Qualität noch sozialökonomisches Wissen. Ist aber die Einkommenslage aller Bauern die gleiche? Schieben nicht zuweilen große und ganz große Bauern die Forderungen der Kleinen vor sich her, um sich auf diese Weise Vorteile zu verschaffen, die ein Vielfaches von dem ausmachen, das der kleine Bauer bestenfalls erreichen kann? Spricht man nicht allzuoft, wenn man sich um eine Bereinigung der Steuertabelle bemüht, lediglich von der Steuerbelastung der Kleinen und ganz Kleinen (die ohnedies wenig oder keine gewinnabhängige Steuer zahlen müssen), während den Vorteil einer „Begradigung“ des „Mittelstandsbauches“ solche haben, die über ein beachtliches Einkommen verfügen? Müssen nicht selten die Kleinen für die Großen streiken, um Kampfmaßnahmen einen moralischen Inhalt zu geben?

Wenn die Streikhandlungen eine kritische Dichte erreichen, kommt es zur allmählichen Desintegration unserer Gesellschaft, die dann auf ein Bündel von einander bekämpfenden Inrer-essenfaaufen reduziert wird, die sich nur noch in einem zufälligen Gleichgewicht befinden.

In einem steigenden Maße vollziehen Streikende und den Streik Androhende das Werk jener, die an einer Demontage unserer freiheitlichen Ordnung außerordentlich interessiert sind, nach deren Beseitigung es dann freilich kein Streikrecht mehr geben wird. Die latente Streikdrohung zerstört das Vertrauen der jeweiligen Sozialpartner, die gegeneinander nur noch mit der Drohung der Arbeitseinstellung oder dem Nichtliefern argumentieren. Nicht selten sucht man nicht mehr den Kontakt mit dem Partner, um ihm etwas abzuhandeln, sondern einfach den Krawall, weil nur ein solcher die „Bosse“ berühmt macht und als Führer geeignet erscheinen läßt.

Die Zeit der großen Demagogen scheint wieder anzubrechen, jener skrupellosen Vereinfacher, denen Vaterland und Gemeinwohl leere Worte jenseits ihrer nur auf eigenes Wohl und Prestige bezogenen Begriffswelt sind. Die formell für die Führung der großen Berufsgruppen Verantwortlichen und jene, die ex offo auf die Sicherung der Wirtschaftskraft unseres Landes bedacht sein müssen, können sich dem Drängen der Forderer kaum erwehren und setzen ihr Prestige aufs Spiel, wenn sie beabsichtigte Gewaltakte nicht mit ihrem Namen decken, sondern etwa ihr Ministeramt im Interesse des gesamten Volkes verwalten wollen.

Da alle von allen fordern, aber schließlich durch die Erfüllung von Forderunigen allein das Sozialprodukt noch nicht größer werden kann, entsteht die Gefahr einer wenn auch nicht absoluten, so doch relativen Kürzung unseres Sozial Produkts, ausgewiesen in einem Je-Kopf-Einkommen, das unter jenem der Anrainerstaaten liegt. Auf lange Sicht bezahlen jedenfalls die Streik-rechnung auch jene, die den Streik formell „gewonnen“ haben.

Zuweilen scheint es, als ob nicht allein die physische Gewalt, sondern auch schon die Herrschaft, als legitime Gewalt, auf die Verbände übergegangen ist. Das aber bedeutet den allmählichen Übergang zu einer demokratisch etikettierten Räterepublik. Die Abgeordneten des Hohen Hauses, vom Volk in einer wahrhaft freien Wahl erkoren, sind zu Erfüllungsgehilfen von Gruppen geworden, die jeden parlamentarischen Widerstand einfach mit der Stillegung des Lebens der Gesellschaft bedrohen.

Ob Archivare oder Molkereiarbeiter streiken, ist nicht das gleiche. Ein Streik, der eine lebenswichtige Zufuhr von Gütern unmöglich macht, vermag uns auf die Versorgungssituation von 1945 zurückzuführen. Mit Recht schlägt daher Oscar P o 11 a k (in der Nummer 6/7/1962 der „Zukunft“) vor, für bestimmte Berufe vorsorglich, wie dies auch bereits in anderen Ländern geschieht, eine gleitende Lohnskala einzuführen, weil Streiks „. . . in für andere lebenswichtigen Berufen nicht mehr zweckmäßig, nicht mehr zeitgemäß sind“ (S. 165).

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