Fischsterben in der Oder: Der leidende Fluss
Die Oder wird seit Jahrzehnten überlastet. Vieles deutet darauf, dass jetzt das Fass zum Überlaufen kam – und unfähige Behörden die Lage verschärften. Ein Lokalaugenschein.
Die Oder wird seit Jahrzehnten überlastet. Vieles deutet darauf, dass jetzt das Fass zum Überlaufen kam – und unfähige Behörden die Lage verschärften. Ein Lokalaugenschein.
Es ist der frühe Morgen des 22. August. Seit zwei Tagen schon regnet es in Kędzierzyn-Koźle (Kandrzin-Cosel), einer Stadt in der südpolnischen Industrieregion Oberschlesien. Die Stadt geriet im Zuge der jüngsten Umwelt-Katastrophe an der Oder kurz in den Fokus: Denn im Gleiwitzer Kanal, einem größeren Oder-Zufluss, waren schon Anfang Juli auf Höhe von Kandrzin-Cosel vermehrt Fisch-Kadaver entdeckt worden. Die lokale Wasserbehörde wies nach einer Analyse von Wasserproben eine Verbindung mit dem Fischsterben in der Oder zurück; dort, hundert Kilometer westwärts des Oder-Flussverlaufs, wurden erst gut zwei Wochen später tonnenweise Fischkadaver entdeckt.
Doch ein Blick auf die Industriebetriebe in und um Kandrzin-Cosel – eine große Kokerei und ein großer Stickstoff-Hersteller etwa – und ein Blick in die Oder und den Gleiwitzer Kanal selbst zeigen: Ein Zusammenhang ist möglich. Fluss und Kanal sind schon hier schmutzig, sie stinken – und auch wenn kein toter Fisch zu sehen ist: „Jeder in der Stadt weiß, was da alles an Dreck in den Fluss geleitet wird“, sagt Anna, die in der Stadt lebt und einige Jahre auf einer Oder-Fähre tätig war. „Ich bin einmal in die Oder gefallen. Also, das ist nicht zu empfehlen.“
Verschlampte Informationen
Derzeit ist es in Polen nicht nur nicht empfehlenswert, in die Oder zu steigen, sondern sogar amtlich verboten. Denn der 866 Kilometer lange Fluss, der in Tschechien, im mährischen Odergebirge, entspringt, als Odra durch den Südwesten Polens und dann entlang der polnisch-deutschen Grenze fließt sowie über das Stettiner Haff in die Ostsee mündet, erlebt gerade eine Tragödie. Bereits Ende Juli hatten polnische Behörden Hinweise von Anglern erhalten, dass es bei Oława, einer Stadt zwischen Oppeln und Breslau, vermehrt tote Fisch gebe. Zwar hatte die regionale Abteilung des Hauptumweltinspektorats (GIOS) kurz danach selbst Untersuchungen eingeleitet. Doch die Meldeketten versagten, Informationen versiegten oder wurden verschlampt. Inzwischen wurden allein in Polen mehr als 150 Tonnen Fisch-Kadaver geborgen. Polens Behörden belüften an vielen Stellen die Oder, denn die auf ihrem Grund liegenden Kadaver entziehen beim Zerfallsprozess dem Wasser Sauerstoff – und führen zu weiterem Fisch-Sterben.
Nachdem Behörden und Wissenschaft lange Zeit im Dunklen getappt hatten – zunächst wurden etwa erhöhte Quecksilber-Werte vermutet –, scheint inzwischen klar: Hauptauslöser für das Fisch- und Krebs-Sterben sind wahrscheinlich sogenannte Goldalgen. Deutsche und polnische Laboruntersuchungen identifizierten die Algenart Prymnesium parvum, die eine für Fische giftige Substanz produziert. Das Besondere: Diese Algenart kommt eigentlich nur in Salz- oder Brackwasser vor. In der Tat wurden in den letzten Wochen in der Oder stark erhöhte Salz- und PH-Werte gemessen. Diese entstehen, wenn der Wasserstand niedrig und der Wasseraustausch gering sind – und zudem hohe Mengen an Salzlösungen eingeleitet werden. Letzteres ist Fakt: Zusätzlich zu den offiziell bekannten Einleitstellen von Industrie und Gemeinden entdeckten polnische Kontrolleure zuletzt fast 300 bestätigte illegale Stellen, in denen an der Oder oder ihren Zuflüssen Abwasser eingeleitet wird. Der Status von weiteren, rund 2000 solcher Ableitstellen ist bislang unklar.
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