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Größere“ Entente sucht Europa

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„Es liegt an den afrikanischen Staaten selbst, die Elemente zu definieren, die die Grundlage für die afrikanische Solidarität darstellen.“ Die Worte, die der UNO-Generalsekretär in seinem letzten Jahresbericht geprägt hat, stehen wie ein Motto über der politischen Szene Afrikas, über der sich in diesem Jahr der Vorhang zu einem neuen Akt gehoben hat. Die in der letzten Oktoberwoche in Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste, abgehaltene Konferenz der lateinafrikanischen Staaten hat darin einen, von der mitteleuropäischen Öffentlichkeit erst wenig beachteten neuen Akzent gesetzt.

Am 24. und 25. Oktober traten in Abidjan die Staatschefs der französischen Nachfolgestaaten zusammen, die 1960 ihre Unabhängigkeit erlangt haben. Diese zählen nun insgesamt 14, wenn man von Madagaskar absieht, das sicVh'icht als afrikanischen Staat ansieht, und dafür Mauretanien mitzählt, dessen Unabhängigkeitserklärung erst für Ende November vorgesehen ist. Die Staatschefs von acht Ländern, der Elfenbeinküste, Obervolta, Niger, Dahome, Senegal, Mauretanien, Kamerun und Kongo waren persönlich anwesend; zwei weitere — Gabun und Zentralafrika — hatten sich durch Regierungsmitglieder vertreten lassen, und der Staatschef des Tschad war anscheinend nur umständehalber an der Teilnahme verhindert. Stärker reserviert blieb die Haltung des Präsidenten der Republik Mali, des früheren französischen Sudan, Modibo Keita, der als seinen Vertreter den islamischen Gelehrten Hampate Ba, einen Schüler des im Rufe eines Heiligen gestandenen westsudanischen Mystikers Tjerno Bokar (gestorben 1940) delegierte. Es ist verständlich, daß Keita, der in Bamako gegenwärtig mit Missionen aus Washington, Moskau und Peking über Wirtschaftshilfe verhandelt, den Führern des von ihm abgefallenen Senegal nicht begegnen wollte. Endlich fehlten am gemeinsamen Tisch der lateinafrikanischen Staaten Guinea und Togo. Dafür hatte der Staatschef des vormals belgischen Kongo, Kasavubu, in Albert Kalonji, dem Führer der Baluba von Kasai, einen profilierten Gegner Lumumbas und Föderalisten als persönlichen Vertreter nach Abidjan entsendet.

AFRIKANISCHE SOLIDARITÄT ALS FRIEDENSFAKTOR

Das Treffen stand in auffallendem Gegensatz zu den zahlreichen, meist von starkem Propagandalärm begleiteten Tagungen afrikanischer Politiker der letzten Jahre. Selbst die engsten Mitarbeiter der Staatschefs blieben von den Verhandlungen ausgeschlossen, und auch die anfänglichen Tonbandaufnahmen wurden eingestellt, um Indiskretionen zu verhindern. So gab über den Inhalt der Gespräche nur ein knappes Kommunique Aufschluß, das besagte, die Teilnehmer hätten sich über eine gemeinsame Haltung in den gToßen afrikanischen Fragen, namentlich dem Kongo, Mauretanien und Algerien, geeinigt und würden ihre Delegationen bei der UNO dementsprechend instruieren.

Nur in einer dieser drei Fragen wurde man deutlicher: Die Unabhängigkeit Mauretaniens, hieß es, würde wärmstens begrüßt und jedenfalls unterstützt werden. Diese der Politik de Gaulles freundliche Stellungnahme scheint einen gewissen Aufschluß über die Orientierung des ganzen in Abidjan in Bildung getretenen Blocks der lateinafrikanischen Staaten zu geben. Das mehr als eine Million Quadratkilometer Ausdehnung umfassende, dünnbesiedelte Mauretanien, das infolge seiner Erzlager in den letzten Jahren steigendes internationales Interesse fand, wird bekanntlich von seinem nördlichen Nachbarn Marokko aus historischen wie ethnischen Gründen beansprucht. Da die neue Republik Mali Frankreich die Schuld an der Sezession des Senegal beimaß, scheint in jüngster Zeit in der mauretanischen Frage eine Annäherung zwischen Marokko und Mali stattgefunden zu haben. Diese beleuchtet der in Paris lautgewordene Vorwurf, Mali hoffe sich durch eine Beteiligung an einer zukünftigen Aufteilung Mauretaniens wieder den verlorenen Zugang zum Meer zu nsehafienuA i [syßfc lihsJ isnnsi i nov

Die bisherige Politik der afrikanischen Solidarität, die namentlich auf den Tagungen der unabhängigen Staaten Afrikas in Accra (1958) und Addis Abeba (i960) Ausdruck fand, stand von der Bandungkonferenz der „farbigen Staaten“ von 1955 her überwiegend im Zeichen eines stark antiwestlich geprägten, positiven Neutralismus. Faktisch waren es zunächst auch fast ausschließlich afrikanische Staaten dieser Gruppe, die bei der UNO-Intervention im Kongo zum Zug kamen. Ihr aktivistischer, schwarzafrikanischer Flügel, die Gruppe Ghana-Guinea, hat auch im Kongokonflikt aus seinen Sympathien für die Regierung Lumumba kein Hehl gemacht. Accra und Conakry haben Gegnern der Regime in den französisch-afrikanischen Staaten, wie dem kommunistischen Führer der kamerunesi-schen Rebellen, Dr. Moumie, Zuflucht und Unterstützung gewährt. Sie sind nun dadurch in einen Gegensatz zu ihren Nachbarn geraten und Agitationszentren radikaler Strömungen geworden, deren extremen „Antikolonialismus“ auch intensive Wirtschaftsbeziehungen zu den Ostblockländern — neuerdings auch Rotchina — untermauerten.

Der Block der neuen lateinafrikanischen Staaten, zu dem nun mit Kamerun auch ein nicht zum Staatenbund der französischen Gemeinschaft gehöriges Land gestoßen ist, sucht demgegenüber einen konstruktiven, aber nichtsdestoweniger afrikanischen Kurs. In der Algerienfrage soll — wie nur vermutet wird — die Entsendung vermittelnder Missionen nach Paris wie zur algerischen Exilregierung in Tunis geplant sein. Vorfühlende Kontakte diesbezüglich haben — der Annäherung Mali-Marokko parallel — zwischen dem Senegal und Tunis stattgefunden.

Das Gewicht der zehn Abidjan-Staaten, die zusammen nur eine Bevölkerung von rund 20 Millionen zählen, obzwar jeder einzelne von ihnen eine Flächenausdehnung von mehreren hunderttausend Quadratkilometern besitzt, scheint auf den ersten Blick nur die Anzahl ihrer UNO-Stimmen zu bilden. Der geringe Bevölkerungsstand, der sich allerdings mit dem der kleineren Länder Lateinamerikas wie Europas vergleichen läßt, kennzeichnet den Entwicklungszustand dieser Länder. (Auch die größeren Länder Europas zählten in der vorindustriellen Ära ähnliche Bevölkerungszahlen.) Gerade des geringen Entwicklungszustandes sind sich die Führer dieser Staaten durchaus bewußt und daher zu einer Zusammenarbeit mit den fortgeschrittenen Industrieländern des Westens eher bereit als für Abenteuer eines politischen Radikalismus. Es erscheint aber nicht I ausgeschlossen, daß mit Nigeria der stärkstbevölkerte neue Staat Afrikas, dessen Führer eine deutliche Abneigung gegen expansionistische panafrikahische Pläne an den Tag gelegt haben, auf internationaler Ebene an die Seite der lateinafrikanischen Gruppe tritt und damit deren numerisches wie moralisches Gewicht erhöht.

FÖDERALISMUS EIGENER ART

Das abgenützte Schlagwort von der „Balkani-sierung“ Afrikas ist noch in einem anderen Sinn gänzlich irreführend! Keiner von allen den neuen schwarzafrikanischen Staaten, wie groß oder klein seine Bevölkerungszahl auch sein mag, bildet ja in sich eine nationale Einheit. Jeder von ihnen umfaßt auf seinem Gebiet eine oft beträchtliche Anzahl von Völkerschaften ganz verschiedener Tradition und Muttersprache, deren nationale Einheit nur aus de“ verbindenden Elementen ihrer jüngsten Geschichte erwachsen kann: der christlichen Religion oder dem Islam, der französischen oder englischen Kultur und Sprache. Jedes der Länder hat seine spezifischen, nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch geistigen Entwicklungsprobleme der Formung seiner „Personnalite africaine“. So hat sich die These einer Zusammenarbeit auf zwischenstaatlicher Ebene — wie sie letzten Endes heute in allen Teilen der Welt, und nicht zuletzt auch in Europa, vorherrscht — einen natürlichen Vorrang. Der einzige afrikanische Bundesstaat, Nigeria, hat zehn Jahre um seine innere Struktur gerungen. Das Scheitern einer gewaltsamen neutralistischen Einheit in einem zu großen Raum ist dagegen am Kongo deutlich geworden.

Die Organisation der in der Mehrzahl der Staaten des vormals französischen Afrika herrschenden Partei, des ..Rassemblement Democra-tique Africain“ (RDA) hat dieser Auffassung seit jeher Rechnung getragen. Bei einheitlichem Statut und Programm waren die einzelnen Landesparteien miteinander nicht durch eine zentra-listische Lenkung, sondern nur einen koordinierenden Ausschuß gleichberechtigter Spitzen verbunden. Dieses Modell, das in letzter Zeit bereits die Zusammenarbeit des . Conseil d'Entenfe“ von vier westafrikanischen Staaten, unter der moralischen Autorität des Präsidenten der Elfenbeinküste und des Gesamt-RDA, Felix Houp-houet-Boigny, inspiriert hatte, erweist sich heute für die souverän gewordenen lateinafrikanischen Staaten in noch höherem Maße anziehend. Dies um so mehr, als die Ergebnisse, zu denen die beiden dissidenten RDA-Parteien Seku Toures und Keitas im Sudan und Guinea gelangt sind, den Führern der anderen Länder so wenig narfi-ahmenswert erscheinen dürften wie die ebenfalls gescheiterten föderalistischen Ambitionen des Senegal.

Die „größere Entente“ wird Ende November in Brazzaville, am Rande des fiebergeschüttelten Kongobeckens, und im Dezember in Yaunde, der Hauptstadt Kameruns, wieder zusammentreten, in dessen südwestlichem Landesteil der Guerillakrieg gleichfalls noch nicht erloschen ist. Es ist möglich, daß die Konferenz von Abidjan eines Tages historische Bedeutung erlangen wird, wenn der Weg, den sie gehen will, von Erfolg begleitet sein wird.

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