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In Warschau liegen die Schlüssel

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Die Polnische Volksrepublik zählt nach den neuesten Schätzungen fast 28 Millionen Einwohner; sie besitzt das stärkste, das bestausgerüstete und das tüchtigste Heer unter den sogenannten Volksdemokratien, und durch sie führt der Weg zu den beiden industriell höchstentwickelten Satelliten der UdSSR, zum kommunistisch regierten östlichen Teil Deutschlands und zur Tschechoslowakei. Nimmt man hinzu, daß in keinem europäischen Staat der Moskauer Machtsphäre die inneren Widerstände gegen den fotalitarismus, die Kraft der katholischen Kirche und die nationale Abneigung gegen die Russen so groß sind wie in Polen, dann begreift der einsichtige Beurteiler ohne weiteres, wie wichtig diese Schlüsselposition in den Augen der sowjetischen Führer ist,, und man versteht es allerdings weniger, daß sich weder bei den Angelsachsen noch in Deutschland eine ähnliche Bewertung des polnischen Faktors zeigt. Erst die Posener Ereignisse vom 28. Juni haben die Aufmerksamkeit der internationalen Oeffent-lichkeit der nichtleninistischen Welt für kurze Frist auf diesen neuralgischen Punkt Zwischeneuropas gelenkt; doch dieses Interesse ist schon wieder erlahmt. Und doch sind die Dinge, die sich jetzt in Polen abspielen, von noch erheblicherer Bedeutung als die rasch unterdrückten Ausbrüche der Verzweiflung, die ja nur ein Symptom einer viel umfänglicheren Krise waren.

Um es kurz zusammenzufassen: Im Weichselgebiet vollzieht sich ein zäher und erbitterter Kampf zwischen zwei Tendenzen, die man nicht voreilig und unzutreffend als Stalinismus und Titoismus abstempeln soll. Die Aehnlichkeit zwischen dem siebenjährigen jugoslawischen Schisma und der polnischen „Schneeschmelze“ beruht nur darauf, daß hier wie dort der Satellit sich vom absoluten Tyrannentum des Oberherrn loszumachen trachtete. Sonst aber sind Ausgangspunkt, Wesen und Ziele der beiden Vasallen des Kremls voneinander sehr verschieden. In Belgrad kämpfte eine überragende Persönlichkeit zusammen mit einer an sie geketteten Schar von Getreuen um die politische und physische Existenz. Es handelte sich um ein Duell zwischen dem alternden, größenwahnsinnigen Stalin und dem in seiner Vollkraft befindlichen staatsklugen Tito. Dabei suchte der einstige Partisanenführer Anlehnung an den Westen, solange, bis er seine eigentliche Absicht, die Wiedervereinigung mit der kommunistischen Gemeinschaft und seine Autorität innerhalb dieses Kreises, erreicht hatte. Er verlangt darüber hinaus, als der zweite Mann einer erdballumspannenden dritten Kraft, nach der Rolle eines gut entlohnten unehrlichen Maklers zwischen Westen und Osten. Er ist zwar Patriot, doch vor allem Kommunist, jeder echten Liberalisierung und vor allem der Religion spinnefeind.

In Polen entbehrt die jetzt um den Vorrang bemühte Gruppe, wenigstens im Augenblick, einer überragenden Persönlichkeit. Es sind weltkundige Intellektuelle oder durch Erfahrung herangebildete Holhintellektuelle, die der geistigen Schicht mehr Schaffensraum, der gesamten

Nation mehr Freiheit und bessere Lebensbedingungen sichern wollen; sie werden durch ein Dutzend vorderster Anwälte und Hunderte im zweiten Glied Mitstreitender vertreten, die allesamt durch Begabung oder Zufall in den Vordergrund geraten sind. Anders als Tito, denken diese Befürworter der „Demokratisierung“ nicht daran, die außenpolitische Situation durch scheinbare, demonstrative Abkehr von der UdSSR und durch militärischdiplomatisches Kokettieren mit dem Westen ins Schwanken zu bringen. Sie wünschen zwar eine Lockerung der Abhängigkeit vom Kreml,, verkennen indessen nicht, daß zwischen der Sowjetunion und Polen in vieler Hinsicht eine weltpolitische Interessengemeinschaft besteht bzw. daß es für Polen derzeit sehr gefährlich wäre, an ihr zu rütteln. Sie streben jedoch nicht als Fernziel an, auf dem Umweg über westliche Extratouren später wieder in die östliche Allianz als deren mitführendes Glied zurückzukehren, noch große Weltpolitik zu machen. Und sie sehnen sich nach geistigem und wirtschaftlichem, regelmäßigem und freiem Kontakt mit dem Westen. Sie wollen wirklich eine Atmosphäre relativer Freiheit dem Lande bescheren und, eine wesentliche Abweichung von Jugoslawien, mit der Kirche einen Modus vivendi; selbstverständlich nicht aus frommer Ueber-zeugung, doch im Hinblick auf die Gesinnung der Einwohnerschaft, die breiten Massen des kommunistischen Parteivolks nicht ausgenommen.

Gegen das alles wehren sich verbissen jene Kommunisten, denen vor allem an Linientreue und damit an blinder Fügsamkeit gegenüber der Sowjetunion gelegen ist. Moskau hat, schon vor dem 28. Juni und in wachsendem Maße seither, in dieses Ringen eingegriffen. Artikel in der „Prawda“, Sendungen im Rundfunk, Interventionen der Sowjetbotschaft und hoher russischer Parteiwürdenträger, zuletzt die Reise Bulganins und Schukows nach Warschau, wo sie auf die dort tagenden Mitglieder des Zentralkomitees der marxistischen Einheitspartei (PZPR) den schärfsten Druck ausübten und in veröffentlichten Reden einerseits die polnische Presse und „weich“ gewordene oder unzuverlässige Parteigenossen kritisierten, anderseits politische und wirtschaftliche Versprechungen ausstreuten: das sollte die Stellung des von Chruschtschew im Winter auserkorenen Nachfolgers Bieruts, des nunmehrigen Ersten Parteisekretärs Ochab, festigen und einer allzu weitgehenden „Demokratisierung“ vorbeugen. Mit Entschiedenheit wurde es abgelehnt, Polen oder einer sonstigen Volksdemokratie das Recht auf ein Aus-der-Reihe-Tanzen zuzubilligen. Mit welchem Ergebnis? Aeußerlich wurde den meisten sowjetischen Thesen nicht nur im Referat Ochabs, sondern auch in dem Cyran-kiewiczs und in der Schlußresolution des Zentralkomitees Rechnung getragen. Man bequemte sich auch zu einem Telegramm an die Moskauer Kommunistenpartei, zu einer Art erneuertem Treuegelöbnis. Dcch wie es in Wirklichkeit mit allem dem aussieht, läßt sich aus vielerlei Einzelheiten und aus den jüngsten Ver-

änderungen im leitenden Personal erkennen. Wohl hat man Jerzy Morawski, einen der Halbdutzendsekretäre der Partei, von der Leitung des Hauptorgans der Kommunisten, der „Trybuna Ludu“, entfernt, doch er, dem die allzu kühnen Vorstöße des Parteimoniteurs als bürgerliche Rechtsabweichung angekreidet wurden, bekleidet weiterhin seinen Posten im Apparat. Vor allem aber hat die Ergänzung des Politbüros, in dem nach Bieruts Tod, Rad-kiewiczs und Bermans Abgang drei Plätze offen waren, durchweg Anhänger Cyrankiewiczs und seines gemäßigten Kurses in dieses oberste Rapacki, Außenminister, ehemaliger Sozialist, Freund Cyrankiewiczs, Edward Gierek, der von seinem 10. bis zu seinem 35. Jahre, mit kurzer, in Polen zugebrachter Unterbrechung, in Frankreich und in Belgien lebte, schon früh in der kommunistischen Bewegung tätig war und erst seit 1948 in der Heimat einen jähen Aufstieg nahm. Parteisekretär in Kattowitfc kam er, nach Wirksamkeit in der Warschauer Zentrale, im heurigen März in deren Sekretariat; Roman Nowak, in der Zwischenkriegszeit als leitender Funktionär der oberschlesischen Parteisektion, während des zweiten Weltkriegs in Bolivien, dann als Parteisekretär in Oppeln verwendet. Unter den eben gewählten Stellvertretern sind Eugenius Stawinski, Nachfolger Bermans als Vizeministerpräsident und Witold Jarosinski, ein Intellektueller aus einer Arbeiterfamilie, Führer der kommunistischen Jugend und seit sechs Jahren Erziehungsminister, weniger fesselnd als Stefan Jedrychowski, der sein feuriges Temperament schon als Student an der Wilnaer Universität austobte, als Offizier, am Weltkrieg teilnahm und 1952 Vizeministerpräsident wurde, soeben aber zum Leiter der Planungskommission bestellt wurde, wo er den intirrtsten Freund Mine', den Stalinisten Szyr ablöste. Rapacki und Jdrychowski entstammen altem Adel, der zweite von ihnen streng katholischem Milieu.

Die gemäßigte Nuance verfügt nun im Politbüro über die Stimmen des Staatsoberhauptes Zawadzki, des Ministerpräsidenten Cyrankie-wiez, des aufgehenden Sternes Gierek — dessen Prestige durch seine Betrauung mit einer Enquete über die Posener Vorfälle sehr gewachsen ist —, des Außenministers Rapacki und über die der Stellvertreter Jdrychowski und Stawinski. Unklar ist die Haltung Jözwiaks und Zambrowskis, während Ochab hinter sich Zenon Nowak und Mazur weiß, vielleicht auch Roman Nowak und Rokossowski, der die allerdings gewichtige Ansicht des Kremls verkörpert.

In sachlicher Beziehung sind bisher sämtliche Entscheide nach dem Begehren Cyrankiewiczs ausgefallen. Die „Demokratisierung“ nimmt in unbegrenztem Umfang ihren Fortlauf. Die Planung wird unter Jgdrychowski den Akzent auf die Verbrauchsgüter legen, ferner auf Erhöhung des Realeinkommens und des Lebensstandard; den Intellektuellen wird man nicht den Mund verbinden. Noch mehr, ungeachtet der eindringlichen Vorhaltungen, die nicht nur Bulganin, sondern auch, schon vorher, der nach Warschau gekommene tschechoslowakische Ministerpräsident Siroky machten, werden cfce — seit Anfang August in aller Form — rehabilitierten „National“kommunisten Gomulka, Spy-chalski, Kliszko wieder zu einer Macht im Schöße der Partei und des Staates. Es klingt wie eine Herausforderung an die lieben russischen Freunde, daß Kliszko, kaum der Haft ledig, zum — Vizeminister für Justiz ernannt wurde. Wann werden wir Spychalski wieder im Heeresministerium und wann werden wir Gomulka als Parteisekretär sehen? Die Herren inj Kreml stecken zunächst diese Schlappen ein; es wäre aber erstaunlich, dächten sie nicht bereits an Revanche. Und das ist es, was dem Freunde Polens das Vergnügen über eine zwar unzureichende, doch erfreuliche Entwicklung verdirbt. So weit, so gut. Wenn aber Moskau plötzlich auf den Tisch haut und mit dem bloßen Drohen roher Gewalt alles auslöscht, was im letzten Jahr politisch und geistig sich gebessert hat?

Wir erwähnen dabei mit Absicht nicht den wirtschaftlichen Sektor; denn auf diesem hat sich nichts günstiger gestaltet und es kann sich auch nichts entscheidend bessern. Ob die eine Hälfte der Werktätigen monatlich unter 1000 Zloty, das heißt an echter Kaufkraft weniger als 600 S verdient, oder gar 1300, was Cyrankiewicz für 1960 verheißt; ob von den Erwerbenden 0,09 oder 0,2 Prozent das wahre Familienexistenzminimum von 5000 Zloty monatlich erhalten: Not und Knappheit werden andauern, wenn zugleich das Kilogramm Butter 54 Zloty, ein anständiger Anzug 2500 Zloty kosten und in Warschau die Zweizimmerwohnung für eine sechsköpfige Familie als ausreichend, eine Dreizimmerwohnung als Luxus betrachtet werden. Darum vermag auch der mildere Kurs, selbst wenn ihn Moskau — was wir bezweifeln — fernerhin und auf lange hinaus duldete, die polnische Dauerkrise nicht zu bannen. Was nicht hindert, daß die Schlüsselposition an der Weichsel und die Vorgänge, die sich dort abspielen, die größte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erheischen.

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