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Polen: neue Westpolitik?

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Neapel); wir wissen nicht, ob die Privatinitiative in der Wirtschaft zu überleben vermag, angesichts des Vordrängens der staatlichen auf Gebieten, die ihr absolut nicht zustehen (tatsächlich stellt der staatliche Erdölverband ENI auch Kon-fektionskleidunig her); um von den Problemen der Landwirtschaft ganz zu schweigen, wo uns schon der Gedanke an die begangenen Irrtümer verwirrt (die fehlgeschlagene Agrarreform in Mittel- und Süditalien); wie lange noch der staatliche Rundfunk und das Fernsehen, die bereits 110 Milliarden Lire einkassieren und noch mehr wollen, die Zeitungen und die Pressefreiheit am Leben lassen wollen; wir wissen nicht, wie lange unser ungerechtes Steuersystem noch potentielle Steuerhinterzieher aus legitimer Selbstverteidigung heranzüchtet; wann Schulen und Krankenhäuser wie in allen zivilisierten, modernen Ländern auch bei uns für alle da sein werden... und so weiter und so fort.

Echo beim kleinen Mann

Es ist für den Mann auf der Straße unmöglich, von Merzagora nicht angesprochen zu sein. Die Dekadenz der öffentlichen Sitte ist kein bloßes Steckenpferd der Publizisten, sondern wird von den Italienern, wenn sie nicht gerade der dünnen privilegierten Schicht angehören, täglich empfunden und erfahren. Es ist nicht leicht, zu sagen, ob die Korruption in der Vergangenheit geringer war als heute, wahrscheinlich nicht, doch die Herrschaft der Parteien wirkt sich unzweifelhaft in einer kapillaren Weise aus, verbreitet sich durch die letzten Haargefäße der öffentlichen Verwaltung und richtet enormen Schaden an. Beispiele wären leicht zu finden. Der Fiskus ist unehrlich und ungerecht bis zur Absurdität, bis zur Selbstverstümmelung der öffentlichen Finanz. Die Unordnung und Verwirrung in den gemeindlichen und staatlichen Ämtern oft grotesk. Das sind alles Dinge, die der kleine Mann am eigenen Leib verspürt. Kann er Merzagora anders als recht geben? Schließlich Ist er der zweite im Staate, er kommt gleich hinter dem Präsidenten der Republik. Muß man ihm nicht die Autorität zubilligen, über diese Sachen zu sprechen?

Vorsicht vor Vereinfachungen

Freilich sind die von dem Senatspräsidenten aufgegriffenen Probleme oft vieldeutiger und komplexer als es erscheinen mag. Bei dem Verhältnis zwischen Privatinitiative und Staatswirtschaft liegen sie nicht so einfach. Merzagora hat den Staatsholding IRI und den Erdölverband ENI aufs Korn genommen. Doch sind es nicht die privaten Industriellen, die den Staat als erste anflehen, ihre in Not geratenen Betriebe abzulösen, zu übernehmen und den Arbeitern das Brot zu erhalten? Oder erbauen die privaten Fiat-Werke nicht in der Sowjetunion eine große Automobil-industrie, das Risiko zur Gänze dem italienischen Staat, das heißt: den italienischen Steuerzahlern überlassend? Und hätte sich der vielgelobte und vielgeschmähte „Erdölkönig Italiens“ Enrico Mattei im Jahre 1946 nicht gegen die Liquidierung der staatlichen Petroleumgesellschaft AGIP gestellt, so würde deren Material für eine Minimalsumme verkauft worden sein und in der Poebene würden heute ausländische Firmen die Erdgasvorkommen ausbeuten, in Sizilien würde keine petrochemische Industrie entstanden sein und die zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung des Nordens und des Südens klaffenden Unterschiede würden noch schmerzlicher sein. Natürlich ist es der Privatwirtschaft nicht vorzuwerfen, wenn sie hohe Risiken vermeidet, auf baldige Amortisation ihrer Investierungen blickt und lohnende Gewinne sucht. Das ist ihre Aufgabe. Aber die private Initiative darf dem Staat auch nichts vorwerfen, wenn er die soziale Funktion des Geldes, des öffentlichen vor allem, im Auge hat.

Cesare Merzagora ist Mailänder und kommt von der Industrie her. Er ist Politiker nur durch Zufall, tatsächlich gehört er keiner Partei an und wurde als Unabhängiger auf einer christlich-demokratischen Liste gewählt. De Gasperi nahm ihn 1948 in sein Kabinett, er wurde Minister für den Außenhandel. Das Verdienst, die geflüchteten Kapitalien aus dem Ausland wieder nach Italien mittels verlockender Bedingungen zurückgeholt zu haben, teilt er mit dem späteren Staatspräsidenten Luigi Einaudi, das der eingeleiteten Liberalisierung, Vorbedingung des italienischen „Wirtschaftswunders“, mit dem Republikaner La Malfa. Als ihm De Gasperi dann den Vorsitz des

Senats anbot, behauptete Merzagora von sich selbst, daß er kein Gesetz von einem Dekret zu unterscheiden wisse. Trotzdem hat er dem Senat durch 15 Jahre mit Autorität und Unparteilichkeit vorgesessen, die ihm nicht einmal seine politischen Feinde absprechen. Doch hat sich Merzagora niemals als wirklicher Politiker gefühlt und war immer so unabhängig, daß er seine Meinung vor niemandem verbarg. 1964 verbreitete er sich über die Skandale: „Was uns beeindruckt, sind nicht einmal die Skandale an sich, sondern die ergebene Resignation, mit der die öffentliche Meinung und wir alle sie hinnehmen.“ Und als der wirtschaftliche Rückschlag eingetre-

ten war, erklärte er ihn rundheraus als „einen erstgeborenen Sohn des Dilettantismus, mit dem die Parteien ihre Ideologien auf wirtschaftlichem Gebiet anwenden wollen.“

Zweimal hat Merzagora bereits seinen unwiderruflichen Entschluß zum Rücktritt angemeldet und zweimal hat er ihn, von der einstimmigen Zurückweisung durch den Senat bewegt, wieder zurückgenommen. Aber diesmal hatte er außer den Parteien des äußersten rechten Flügels nur die Democristiani hinter sich, deren Sprecher aber die Sache Mer-zagoras ohne Wärme vertrat. Dadurch ist der Entschluß zur Demission wirklich unwiderruflich geworden.

Polens verhärtete, unzugängliche Haltung gegen Bonn zu beklagen, gehört seit langem zum Repertoire der bequemeren Ausflüchte deutscher Ostpolitik. Die Frage, ob sie selbst es nicht sei, die Polens außenpolitische Bewegungsfreiheit auf ein Minimum einenge, stellt sich diese Ostpolitik selten. Erst diesen Herbst hat man wieder mit einem Anflug von Schadenfreude — getarnt durch Entrüstung über „historische“ Entgleisungen — den General de Gaulle dabei beobachtet, wie auch er in Warschau auf Grenzen stieß — auf solche auch, die Frankreich zwar anerkannt hat, deren sowjetische Garantie jedoch den Polen solider erscheint als die Sicherheiten, die der General mit seinem unsicheren Bundesgenossen am Rhein bieten kann. Und doch ist der Ruf de Gaulles zu Selbstsicherheit und Weitblick in Polen nicht ohne Echo verhallt. Wenn die Anzeichen der letzten Wochen nicht trügen, so ist Polen dabei, den Bannkreis einer allzu starren Fixierung auf die „deutsche Gefahr“ zu durchstoßen und der Gefahr der Selbstisolierung durch eine etwas beweglichere Westpolitik zu entgehen.

Rapackis Aktivität

„Wir fühlen uns in unseren Grenzen sicher“, sagte Außenminister Rapacki Anfang November in Belgien, wohin er seit langem schon freundschaftliche Bande geknüpft hat. Ruhig, kritisch, aber ohne Aggressivität sprach Rapacki von der Bonner Ostpolitik, die sich erst noch glaubhaft machen müsse. Anschließend fuhr der polnische Außenminister nach Luxemburg, dann empfing er in Warschau den norwegischen Außenminister Lyng, kurz darauf fuhr er nach Kopenhagen auf Einladung des dänischen Regierungschefs Krag und Ende November wird Schwedens Premierminister Erlan-der nach Warschau kommen. Wenn Rapacki — trotz seiner noch immer schwer angegriffenen Gesundheit — solche Aktivität entfaltet, geht es um mehr als höfliche Gesten. Sein Name — seit zehn Jahren das Schlüsselwort nicht nur für einen Plan, sondern für den Ansatzpunkt aller europäischen Sicherheitsüber-

legungen — bürgt für guten Willen und für das notwendige Minimum an Sachlichkeit. Zumal sich inzwischen in den europäischen Außenämtern herumgesprochen hat, daß sogar de Gaulle Rapackis Vorstellungen heute weniger skeptisch betrachtet und den polnischen Außenminister nicht mehr im Verdacht hat, „amerikanophil“ zu sein...

Warschaus Gesprächsbedingungen

Was Polen jetzt — zunächst einmal im Umkreis der Bundesrepublik — vorsichtig sondiert, ist die Frage, welche Möglichkeiten für eine gesamteuropäische Sicherheits-

lösung bestehen, und ob ein ehrlicher Beitrag der Bundesrepublik dazu erwartet werden kann. Noch am 19. Mai hatte Parteichef Gomulka geradezu fatalistisch erklärt, jede — auch künftige — Bonner Regierung, „die die Interessen der kapitalistischen Monopole vertritt, werde stets die gleiche Politik machen wie Adenauer und Erhard, auch wenn sie diese Politik der konkreten Lage anpasse. Der Geist der Karlsbader Konferenz vom April, der die europäische Sicherheit sozusagen vom „Sieg des Sozialismus“ abhängig machte, spukte in diesen Überlegungen.

Inzwischen — seit de Gaulles Besuch — spricht Gomulka der Bonner Politik zumindest nicht mehr die Möglichkeit ab, sich zu wandeln. Rapackis Stellvertreter Winietuicz sprach am 3. Oktober vor der UN-Vollversammlung überraschend milde nur von der Skepsis, mit der Polen „die — bisher — leeren Erklärungen Bonns aufnimmt“, und betonte, daß sich die polnische Regierung „des Gewichtes, ja ich sage noch mehr: der Unumgänglichkeit normaler, guter, entwickelter Beziehungen zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk bewußt ist“. Dann wiederholte Winiewicz die „Voraussetzungen“ für Beziehungen zu Bonn, die Gomulka schon de Gaulle dargelegt hatte:

• Anerkennung des Bestehens zweier deutscher Staaten,

• Aufgabe territorialer Forderungen und

• atomarer Aspirationen.

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