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Sudie nach der Zukunft

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Abseits und wenig beachtet in der westlichen Wohlstandswelt haben sich in Afrika in den letzten drei Monaten bedeutsame Veränderungen vollzogen. Wenig verständlich aus den knappen Berichten der Welt- agenturem hat sich eine Entwicklung angebahnt, die das Antlitz des schwarzen Erdteils umzuprägen beginnt und das jenes von morgen in noch nachhaltigerer Weise beeinflussen wird.

Über die Welt der jungen Staaten Mittel- und Westafrikas, die erst 1960 zur Unabhängigkeit gelangt sind, ist eine Welle von Staatsstreichen hinweggegangen. Militärische Befehlshaber haben am Kongo, in der Republik Zentralafrika, in Dahome, in Obervolta und schließlich auch in Nigeria, dem größten afrikanischen Staat, die Macht übernommen. Äußerlich gesehen folgt Afrika damit einer Entwicklung, wie sie schon zuvor in Ägypten und im Sudan, wie auch in mehreren Ländern Asiens stattgefunden hat. Eine im einzelnen recht verschiedenartige innerpolitische Krisensituation hat — meist ohne nennenswerte Gegenwirkung und sogar unblutig — zur Machtergreifung der Armee geführt. So geschah ts jedenfalls in den vier erstgenannten Fällen, und in zwei davon nicht ohne Präzedenz: denn sowohl der nunmehrige Militärpräsident des Kongo, Joseph Dėsirėe Mobutu, als auch Oberst Christophe Soglo in Dahome haben bereits in der Vergangenheit vorübergehend, wenngleich in weniger definitiver Form, die Macht ausgeübt. Ihre Schritte konnten jedenfalls die neuerliche Entstehung oder eine künftig drohende Entwicklung bürgerkriegsähnlicher Wirren abwenden, und die Installierung militärischer Regimes hat zugleich die Gefahren der auswärtigen Infiltration vermindert. Die Drohung eigentlich recht nationaler Konflikte zwischen den vielen verschiedenen Völkern, die in der kolonialen Ära unter der pax Britannica, Gallica oder Belgica in einem Verwaltungsgebilde zusammengefaßt wurden, nun aber in eigener Verantwortung im gemeinsamen, nicht selbst errichteten Hause zurückgeblieben sind, wird freilich unbeschadet ihrer Verdunkelung durch das Schlagwort der „Stammesgegensätze” noch lange fortbestehen, weil sie in natürlichen und auch geschichtlich gewachsenen Gegebenheiten wurzelt.

Die Übernahme der Staatsgewalt durch „junge Offiziere”, der sich an oft lokalen oder auch sehr persönlichen Motiven inspirierenden Parteipolitik abgeneigter Vertreter einer Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen und zudem eines Korps innerhalb der sich formenden neuen Elite, das sich in besonderem Maße oder sogar als einziges im Lande auf einsatzbereite, befehlsgewohnte Kader stützen kann, ist so kein irrationales Phänomen. Stellvertretend für breitere Kräfte, die noch nicht eigenen politischen Ausdruck gefunden haben, sind sie es, die den zivilen, von Gesellschaftsauffassungen der Vergangenheit, sei es selbst geprägten, sei es deren Vertretern verpflichteten Politikern die Führung aus den Händen nahmen. Dazu kommt, daß die französischen Nachfolgestaaten Dahome, Obervolta und Zerotralafrika als von Natur aus arme Länder, wie auch der früher belgische Kongo immer noch weit entfernt von seiner Prosperität der fünfziger Jahre mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu ringen haben, die sie dementsprechend empfindlicher für politische Krisen machen. Auch ein Einparteiensystem, wie es sich heute in der Mehrzahl der afrikanischen Entwicklungsländer herausgebildet hat und in dem die Einheitspartei gewissermaßen als die politische Klammer der aus vielen, sehr verschiedenen Völkern bestehenden beziehungsweise im Werden begriffenen Nation fungiert, ist keine Garantie für die Regierenden und keineswegs mit einer Einparteiendiktatur in einem hochentwickelten Industrieland zu verwechseln.

Für den Umsturz, der sich am 15. und 16. Jänner in Nigeria vollzogen hat, gelten nur manche dieser Verallgemeinerungen. In seiner Bedeutung überschattet er auch nicht nur die Ereignisse in den anderen Ländern, sondern wahrscheinlich alles, was sich seit Ende des Krieges in Algerien vor nahezu vier Jahren in Afrika zugetragen hat. Nicht allein dank seiner 55 Millionen Einwohner, die es zum neuntgrößten Staat der Welt machen, besitzt Nigeria innerhalb des schwarzen Erdteiles ein besonderes Gewicht. Größere Landesteile sind verhältnismäßig wohlhabend, auch wenn dies in der Kopfquote des Nationaleinkommens im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung nicht hinreichend zum Ausdruck kommt. Nigeria verfügt über Industrie, neuerschlossene Ölfelder, deren Produktion mit der Nordafrikas konkurrieren kann, einen einheimischen Mittelstand und fünf Universitäten. Zum Zeitpunkt seiner Unabhängigkeitserklärung 1960 wurden gegen 20.000 graduierte Akademiker geschätzt. Infolgedessen hat es auch als einziges Land des schwarzen Afrika anderen afrikanischen Ländern, wie dem Kongo oder den Ländern Ostafrikas, nennenswerte „technische Hilfe” militärischer Art wie beim Aufbau von Verwaltung und Justiz •leisten können. Innerhalb der „Organisation der afrikanischen Einheit” (OAU) wie bei den Vereinten Nationen hatte Nigerias Stimme stets besonderes Gewicht, und auch seine Außenpolitik galt mit Recht als realistisch und gemäßigt zugleich.

Der Staatsstreich in den Morgenstunden des 15. Jänner folgte unmittelbar dem Ende der außerordentlichen Sitzung der Commonwealth-Staaten, die wegen der Rhodesienkrise — erstmals in Lagos und nicht in London — und unter Vorsitz des nigerianischen Bundespremiers getagt hatte. Zwei der afrikanischen Commonwealth-Staa- ten, Ghana und Tansania, waren ihr freilich ferngeblieben. Diese beiden Länder hatten bereits zuvor, wie es die Außenministerkonferenz der OAU empfohlen hatte, die diplomatischen Beziehungen mit Großbritannien abgebrochen. Nigeria, dessen Regierung nicht soweit gehen wollte, war Gastgeber der Konferenz, die — wie zu erwarten war — ohne Ergebnisse blieb. War dies zwar keineswegs ursächlich für das Folgende, bestimmt es doch dessen Gesamtprofil mit.

Zum erstenmal ist in Afrika ein technisch hochorganisiertes Komplott zur Ausführung gelangt: In den frühen Morgenstunden wurden in der Bundeshauptstadt Lagos der Premierminister Sir Alhadji Abuba- kar Tafawa Balewa und sein Finanzminister Okotie-Eboh gewaltsam entführt. Ihre Leichen wurden angeblich erst nach einigen Tagen aufgefunden. Gleichzeitig drang in der Hauptstadt des größten Bundeslandes Nordnigeria, Kaduna, eine aufständische Militäreinheit in die Residenz des Landespremiers Sir Alhadji Ahmadu Bello und tötete dessen Wachen wie ihn selbst. Damit war offenbar ein Zentralvorhaben der Putschisten gelungen, das mit der Ermordung des Führers der nordnigerianischen Kongreßpartei, die die Mehrheit im Bundesparlament besitzt, eine etwaige Gegenaktion aus dem Norden wie eine eventuelle Sezessionserklärung Nordnigerias ausschloß. Zugleich konnte die Beseitigung der Zentralfigur der bisherigen nigerianischen Politik auch innerhalb dessen eigener Partei oppositionellen Kräften den Weg freimachen. Das gleiche Schicksal erlitt in Ibadan der dortige Landespremier Chief S. L. Akin- tola, der Exponent der Regierungspolitik in Westnigeria. Gegen 2000 Flüchtlinge suchten in den folgenden Tagen Asyl im benachbarten Dahome; viele andere, vermutlich vor allem Anhänger Akintolas, fanden den Tod. Am 16. Jänner übergab das Rumpfkabinett der Armee die Macht.

Die blutigen Geschehnisse des 15. Jänner waren nicht von ungefähr gekommen. Seit den regionalen Wahlen in Westnigeria im Oktober 1965 hatten Unruhen nicht aufgehört, deren Opfer inoffiziell auf 1500 Menschenleben geschätzt wurden und die durch den manipulierten Wahlsieg Akintolas ausgelöst worden waren. War es „eine Demokratie, die fehlschlug”, wie vor allem enttäuschte britische Beobachter den Ausbruch der Gewalt kommentierten? Gewiß, institutionell war Nigeria eine Demokratie. In jedem seiner drei Bundesländer regierte eine von der Mehrheit des jeweils stärksten Volkes getragene Partei, auf Bundesebene eine Mehrheit dieser Parteien des Nordens und Ostens gegen den Westen. Dies führte schließlich zu einer Spaltung der im Westen herrschenden ,Aktion” und zur Verurteilung ihres Führers wegen „Hochverrats”. Die Entmachtung des gemeinsamen Gegners steigerte die Rivalität: der Osten setzte die Abtrennung eines vierten, von Minderheiten bewohnten Bundeslandes „Mittel-West” vom Westen durch. Der Norden fand in der Abspaltung der früheren „Aktion” unter Akintola neue Gefolgschaft und drohte nun, dank seines rein bevölkerungsmäßigen Übergewichts, ohne den Osten allein zu regieren. Nach dem infolge der Bevölkerungsverteilung voraussehbaren „Wahlsieg” der neuen Gruppierung kam es Ende 1964 nochmals zu einer Art Konzentrationsregie- runig, aber nicht mehr zu echtem Frieden.

Aber die Aufteilung Nigerias in einen gegenüber den drei südlichen Bundesländern flächenmäßig dreimal größeren und auch bevölkerungsmäßig dominierenden Norden bedeutete, daß die entscheidende Macht bei den Herrschern der entwicklungsmäßig am weitesten rück ständigen Gebiete lag. Und hier wieder lag das Schwergewicht der Macht in den Händen einer Schicht von Feudalherren, deren traditionelle Herrschaft auch in der Kolonialzeit nach dem Prinzip der „indirekten Regierung” der Briten aufrecht geblieben, obgleich modernisiert worden war. Sie stützte sich auch heute noch weitgehend, wie die ganze Verwaltung des Nordens, auf britische Kader, die im Süden schon längst der „Afrikanisierung” gewichen waren. Eben dort aber lag, aus sozialen, wirtschaftlichen wie geistigen Gründen, die Dynamik der politischen Entwicklung. Ihr lief letztlich auch die Kompromißbereitschaft der gestürzten Machthaber gegenüber Belastungen durch die britische Politik zuwider. So wurde am 15. Jänner die Hypothek eines Erbes der Kolonialzeit beseitigt, deren Hauptexponenten, von denen zwei britische Adelsprädikate führten, gefallen sind, nicht ganz unähnlich wie 1958 im Irak. Fünf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung vom 1. Oktober 1960 ist eine Ära zum Abschluß gelangt.

Eine neue Verfassung „nach den Wünschen des Volkes” ist in Ausarbeitung. Aber auch innerhalb der Armee, die sich vorwiegend aus dem Süden rekrutiert, haben eine Anzahl Offiziere während der Revolution den Tod gefunden. Der neue Staatschef, Generalmajor John Aguiyi Ironsi, aus einstigem Einsatz im Kongo für den Entsatz des in Bukavu gefangenen Sanitätskontingents Träger einer österreichischen Auszeichnung, entging selbst dem Attentatsversuch eines Oberstleutnants. Dies hat die Problematik, die nun die neue Entwicklung überschattet, bereits deutlich sichtbar gemacht. Diese Problematik zeichnet sich aber immer deutlicher über Afrika, dem einstigen „Kontinent im Aufbruch”, der heute freilich eher ein „Kontinent im Umbruch” ist, ab: Mord, Totschlag und Terror sind heute die. Waffen eines politischen Kleinkrieges…

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