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Klassisches Sizilien — modern empfunden

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Syrakus, Anfang Juli 1952

Wer die Straße von Messina überquert, verläßt Italien und den Kontinent. Mit dem Betreten des sizilianischen Bodens öffnet sich eine andere Welt. Der Charakter der Menschen, die Landschaft, selbst Himmel und Meer strömen eine eigene Atmosphäre aus. Die Ruinen aus der Antike enthüllen das Geheimnis: über diesem Lande schwebt heute noch der Geist des Griechentums. Er ist lebendig in den Menschen, in der Größe der Ausblicke, selbst in den Steinen.

Außerhalb Griechenlands ist gewiß ein Ort vor allen anderen berufen, die Tradition des großen klassischen Dramas zu erhalten und weiterzupflegen: Syrakus. Die große Gegnerin Athens, die Griechenstadt auf dem Boden Siziliens, welche so viele Zeugen ihrer Vergangenheit bewahrt hat. Welche Stätte wäre geeigneter, das antike Drama wieder aufleben zu lassen, als das griechische Theater dieser Stadt, das zu den größten und vollkommensten des Altertums gehörte.

Es war einer der glücklichsten Gedanken des italienischen Literarhistorikers Ettore Romagnoli, als er im Frühahr 1914 hier zum erstenmal ein klassisches Drama aufführen ließ. Das Nationale Institut für das antike Drama ließ die Aufführungen zu einer ständigen Einrichtung werden, und seither begeistern sie alle zwei Jahre Tausende von Besuchern aus Sizilien, Italien und aller Herren Länder. Das antike Drama erlebte hier nach zwei Jahrtausenden seine Auferstehung.

Es ist schwer zu entscheiden, ob von „Ödipus auf Kolonos“ des Sophokles oder von den „Trojanerinnen“ des Euripides, welche in diesem Jahre gegeben wurden, die stärkere Wirkung ausging, ob von der Darstellung des aufwühlenden tragischen Schicksals eines schwergeprüften Menschen, oder von der Schilderung der Not eines geschlagenen Volkes, die in den Klagen der Hekuba und ihrer zur Sklaverei verurteilten Töchter verzweifelnd ausbricht. Beziehungen zur Gegenwart braucht man nicht zu suchen; wir Menschen des 20. Jahrhunderts wissen nur allzugut, was Seelennot, Angst und Gewissensqualen bedeuten, wir haben auch Vernichtung und Untergang mit eigenen Augen sehen müssen. In den beiden Dramen der großen antiken Dichter lassen sich geradezu Spiegelbilder des heutigen Geschehens erkennen.

Der Spielleiter Guido S a 1 v i n i versuchte, die antike Tradition mit den Forderungen modernen Geschmacks zu vereinen. So vermied er, vom Bühnbildner Veniero Colasanti geschickt unterstützt, jede reine Nachbildung antiker Formen. Ihm ist das antike Drama nicht ein Problem archäologischer Rekonstruktion, es handelt sich ihm vielmehr darum, ihren Wesensinhalt mit den stärksten psychologisch wirkenden Mitteln hervortreten zu lassen.

Salvinl erweiterte die Rolle des Chores, indem er Musik und Tanz zu Hilfe nahm, um die seelischen Empfindungen noch sichtbarer zu machen, er läßt den Chor sogar nicht nur rezitieren, sondern auch singen. Die Musik des jungen Fiorenzo C a r p i erfüllt ihren Zweck als selbständiges melodramatisches Element ebenso wie als Begleitung zu den Tänzen, welche die Wiener Meisterin Rosalia C h 1 a d e k mit ihren Schülern einstudiert hat. Ist der Tanz im „Ödipus mehr als Illustration der Worte und der Stimmungen des Chores aufgefaßt, so spielte er in den „Trojanerinnen“ eine stärkere, handelnde Rolle Frau Chladek kann heute auf dem Gebiete des antikes Tanzes als eine der erfahrensten und erfolgreichsten Künstlerinnen angesehen werden und gehört mit ihrer Schule bereits zum festen Ensemble der klassischen Aufführungen von Syrakus.

Für die Wiener Tanzkünstler ist die Reise nach Syrakus weniger denn je eine Unterhaltungsfahrt gewesen. Denn sie beschränkten sich nicht auf die Mitwirkung an den antiken Dramen. Auf einer winzigen improvisierten Bühne in den antiken Steinbrüchen von Syrakus gaben sie weitere Proben ihrer kultivierten Kunst.

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