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Klassische Tragödie

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Bannend, erschütternd, besessen von guten Geistern der antiken Tragödie und der Kunst der Moderne: so wird uns „Ödipus auf Kolonos von Sophokles neu vorgestellt im Wiener Burgtheater, in der Übertragung durch Rudolf Bayr, in Szene gesetzt durch Walter Davy, zelebriert durch Raoul Aslan. Vielleicht ein denkwürdiges Datum: eine junge Generation, die Zwischenkriegsgieneration Österreichs (Davy, Bayr und der Bühnenbildner Skallcki) hat sich hier mit dem Senior unserer Staatsbühne gefunden in der Arbeit an einem Werk, das durch die Zeit dauert, weil sein Schöpfer seine Zeit bis ins letzte hinein durchldtt. Uber dem Ödipus-Drama, über dem Gesamtwerk des Sophokles lastet uicht nur die gewaltige Spannung des Ost- West-Konflikts, die persische Tragödie, sondern mit sehr sichtbaren Schatten auch bereits das Kommende: das Zerbrechen der athenischen Gesellschaft, des altadeligen Kosmos Attikas, das Scheitern der Demokratie in Machtwahn, Parteisucht, Bürgerkrieg; die Verkehrung also aller irdischen und überirdischen Werte, das Sterben der alten Götter und der Menschen, die im Angesicht ihrer Götter eine gute Ordnung einer heilen Welt sahen. Wenn der hohe Hymnus auf Athen, die Walterin des Rechts in einer Welt von Selbstsüchtigkeit und Tyrannen aufklingt, dann denke man also — heute — daran, daß für den Dichter und Bürger seiner Polis, Sophokles, die hohen Worte keine Phrase waren, sondern Mahnung, Beschwörung, Gebet. Wie ernst es ihm ist, zeigt der zweite Sang in dieser Tragödie, das Bekenntnis des antiken Pessimismus von der Schwäche und Hinfälligkeit aller Sterblichen. Wer dies auf sich genommen und angenommen hat, das große politische Bekenntnis zur Heilkraft der politischen Gemeinde („Athen , später „Demokratie sind die Symbolnamen), und dann die1 Confessio — also die Begründung der Humanität eben in rückhaltloser Aufdeckung der wesenhaften Brüchigkeit und Schuld des Menschen — , der soll und mag getrost erfahren, was antikes Drama ist: Katharsis, Tröstung, Umwendung, Sühne, Buße, Dank und Feier. Wie nahe dieses Mysterium Grundelementen der christlichen Messe steht, wird in dieser Aufführung nicht nur durch die priesterlichen Gewänder und das thematische Sühnopfer des Königs Ödipus klar. Es sind eben die heiligen Heroen der „heidnischen" Antike dem frühen christlichen Denken und Handeln viel, viel näher, als das Predigen und Reden neuchristlicher Professoren in späteren Zeitläuften.

Überraschend, in der Aufführung, der Chor: man versteht ihn manchmal nicht, einzel- gängerische Töne drängen bisweilen vor, so, als ob Kierkegaards Einzelner noch ein Wörtchen mitreden wollte bei der hohen Feier sakraler Gemeinschaft — und dennoch wirkt er wie eine Verheißung. Dieser Chor ist nämlich voll von Möglichkeiten; fern schillerisch- schillemder Pathetik, f°rn der Reimerei und Tönerei neuer Totalitärer, klingt hier eine reiche Instrumentation auf, wird wieder glaubwürdig die Sprache einer geformten Gemeinschaft. Der Chor als Innenraum und Außenraum einer Gemeinde von Menschen — etwas also, was trotz aller Versammlungen, Reichstagsreden und Massensprechchöre dem 19. Jahrhundert nicht gegeben wurde, trotz vieler Anstrengungen, beginnt hier glaubwürdig zu werden. Ein Anfang, der sehr zu denken gibt. Nur in einem Nachsatz kann hier angedeutet werden: eine gültige neue Chorgestaltung würde identisch sein mit einer neuen Humanität, dem Gelingen einer echten Einformung des Individuums in eine echte Gemeinschaft — das aber wäre der Erweis möglicher neuer Demokratie: und, in Philosophie und Kunst, einiges mehr dazu. Daß solche Andeutungen hier assoziierbar sind, verdanken wir der priesterlichen Erscheinung Aslans, der Sprachkunst Bayrs, dessen Prolog Sonderlob verdient, dem Ensemble der Burg, die sich alle hier zur Verfügung gehalten haben (gehalten in Anspannung der Kräfte für Sophokles. Und für das moderne Drama).

Liebenswürdig, heiter, verfließend: ein mittelmäßiger Molnir, „Große Liebe“ benannt, in der Josefstadt. Bezaubernd Vilma Degischer und Elisabeth Markus, Charmeur von Beruf (als Schauspieler hier, und, etwas zurückhaltender, als Regisseur) Hans Jaray. Vielleicht ein Kassenerfolg.

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