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Skelettgräber über Brandgräbern

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Seit 2500 Jahren geht der Pflug über die steinernen Aecker von Loretto im Burgenland, seit 2500 Jahren säen und ernten die Bauern Jahr für Jahr auf diesen Feldern, ohne jemals auf das Geheimnis gestoßen zu sein, das nur wenige 40 cm unter der Scholle ruhte. Ungezählte Generationen schritten ahnungslos und achtlos über ein historisches Dokument von seltener Aussagekraft. Als im Herbst 1953 der Dorfbewohner Täuschler den ersten Topfscherben, den eine Pflugschar aus dem Boden gerissen hatte, wegen seiner fremdartigen Verzierung und Formgebung aufhob und dem burgen-ländischen Landesarchäologen Dr. Ohrenberger in Eisenstadt brachte, ahnte er noch nicht die Bedeutung seines Fundes.

Die seither in jedem Herbst unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. A. Ohren-b e r g e r durchgeführten urgeschichtlichen Ausgrabungen haben neue und tiefe Einsichten in die Kultur des ältesten bekannten Volkes auf österreichischem Boden erbracht — in die Kultur der Illyrer. Die Illyrer sind das erste indogermanische Einzelvolk, dessen Volksnamen uns überliefert ist. Sie siedelten sich zwischen 800 und 450 v. Chr., in der sogenannten Hallstattzeit (benannt nach dem ersten Fundort Hallstatt), auch im Alpenraume an. Etwa 30 Gräber wurden im Laufe der letzten Monate freigelegt und für die Dauer der Grabungskampagne als Freilichtmuseum offen gelassen. Die überwiegende Mehrzahl derselben sind Brandgräber, d. h., der Tote wurde entsprechend dem damaligen Bestattungsbrauchtum auf dem Scheiterhaufen verbrannt und die Leichenasche in oder zwischen den Graburnen beigesetzt.

Das Bemerkenswerte an dem Gräberfeld in Loretto ist, daß häufig unmittelbar über den illyrischen Brandbestattungen Gräber von keltischen Kriegern anzutreffen sind. Die Kelten verbrannten jedoch nicht ihre Toten, sondern legten den Leichnam in Rückenlage mit Waffen- und Schmuckbeigaben in eine Grabgrube. Daß die keltischen Skclettgräber immer wieder direkt über den illyrischen Brandgräbern angelegt wurden, ist möglicherweise ein vom Eroberervolk beabsichtigter symbolischer Ausdruck für die Unterwerfung der illyrischen Bauernbevölkerung durch die kriegerischen Kelten, die zwischen 450 und 15 v. Chr. — in der sogenannten La-Tene-Zeit — vom Donauraum Besitz ergriffen.

Den rund 3000 Besuchern dieser überaus aufschlußreichen Ausgrabungen bot sich ein eindrucksvoller Anblick: da zogen die burgen-ländischen Bauern mit dem Pflug unmittelbar neben den freigelegten letzten Ruhestätten zweier verschollener Völker vorbei, die vor zweieinhalb Jahrtausenden dieselbe Erde bewohnt und bebaut hatten, die heute jener kleinen Dorfgemeinde am Rande des Leithagebirges gehört, zweier Völker, die eine beachtenswerte Kultur hervorgebracht hatten, die in der politischen und kulturellen Führung einander ablösten und zuletzt den von Süden vormarschierenden römischen Legionen und den von Norden einwandernden germanischen Stämmen unterlagen.

Inmitten von zahlreichen kleineren Brandgräbern lag das reiche Prunkgrab eines illyrischen Fürsten: Vierzehn hohe Kegelhalsurnen wurden von etwa siebzig verzierten und bemalten Gefäßen halbkreisförmig umschlossen, zwei Halsketten aus durchlochten und aufgefädelten Mittelfußknochen von Schaf oder Ziege, fünf Tonfiguren, mythische Tiere darstellend, und zahlreiche Speisereste, die dem Toten auf seine Fahrt ins Jenseits mitgegeben wurden, zählten zu den Grabbeigaben. Ein anderes Grab war durch eine Anzahl in einer Ecke aufgestellter Kultgerät,: — eine Zeremonialrassel, eine von vier vogelfußförmigen Standfüßen getragene Opferschale, Räucherwerk aus Harz und Rötel — offenbar als „Priestergrab“ gekennzeichnet.

Die Forschung über Mythologie, Denkart und Totenbrauchtum der Illyrer, der Grundbevölkerung Oesterreichs, ist durch die diesjährigen Ausgrabungen des burgenländischen Landesmuseums in Loretto um zahlreiche neuartige und konkrete Erkenntnisse bereichert worden. Mit modernen Grabungstechniken und Arbeitsmethoden gelingt es der Wissenschaft mehr und mehr auch jene Abschnitte der Menschheitsgeschichte, von der es noch keine schriftlichen Berichte gibt, unserem geistigen Auge zu erschließen.

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