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Das große Experiment in Japan

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Nagoya City, Showaku, Japan, Ende August Die Verwandlung, die gegenwärtig im japanischen Inselreich im Gange ist, hat in der modernen Geschichte eine Parallele nur in dem Wechsel, der sich in Rußland mit dem jähen Uebergang vom zaristisdien Staatssystem und seiner Gedankenwelt zum marxistisch-bolschewistischen Staatsversuch vollzog. Und auch dieses Beispiel wird durch den in Japan sich vollziehenden Prozeß überholt.

Die Eigenwelt eines hochkultivierten Hundertmillionenvolkes, das erst vor kurzem den alten Militärstaat der Shogune und Samurai äußerlich abgetan hat, seinem Geist aber verhaftet geblieben ist, stößt mit ihrem polarischem Gegensatz, der USA, zusammen, der Macht des nüchternen Realismus, der Tradi-tionslosigkeit und der unbedingten Freiheit. Und diese Macht ist der Sieger und dieser verfolgt den Plan, das alte Japan auszulöschen und ein Japan zu schaffen, das im Denken und Empfinden eine Demokratie nach amerikanischer Vorstellung wird, ein Freund, .womöglich in Zukunft ein Verbündeter gegen die Gefahren, die in den ostasiatischen Weiten lauern.

Großzügig, mit gutem Bedacht, und mit redlichem Willen ist MacArthur, auf einen Stab bedeutender Fachleute gestützt, an die Neumodellierung des japanischen Volkes, seines Denkens, seines Wollens und seiner uralten Gewohnheiten gegangen. Ein gigantisches Erziehungspensum, das sogar phantastisch zu sein scheint, immer noch seines Enderfolges ungewiß, aber doch schon heute nach erstaunlich kurzer Frist so weit fortgeschritten, daß bestimmte Wahrnehmungen erlaubt sind. ,

Die Reform hat mit einer richtigen Umschulung des Volkes begonnen. Für Unterrichtsanstalten aller Grade ist ein neues Fach eingeführt: Vom vierten Schuljahre an wird das Kind mit der „Gesellschaftslehre“ vertraut gemacht, die das Verhältnis der Menschen zueinander, ihre Rechte, ihre Pflichten nach den Regeln einer Naturethik erfaßt. Das Experiment sucht bei der Familie zu beginnen, aber die Gleichheit unter den Eltern ist noch hauchdünn. Der Ausgleich der äußeren Unterschiede vollzieht sich noch hart. Immerhin es ist eine gewisse Lockerung des alten Familiensystems, das allzu streng an die Autorität des Familienvaters gebunden war und der Mutter wenig mehr als die Sorge um die Wiege überließ, ein freieres

geworden. Manche Pflicht gegenüber dem Kinde sucht die Gemeinschaft abzunehmen. Drei Fundamentalsätze der neuen Gcsellschaftslehre zeichnen die Struktur der erstrebten neuen Gesellschaft an: „Das Land gehört uns allen.“ Nach dem bisherigen japanischen Begriff war alles Land an oberster Stelle Eigentum des Kaiserhauses. Der Besitz hatte eine Art lehensrechtliche Stellung. „Das Leben jedes einzelnen Bürgers“ — sagt der zweite Satz — „ist kostbar.“ Das galt bisher nur von der Familie des Feudalherren und des Kriegers. Die dritte Verkündigung hält dem alten Militarismus entgegen: „Alle müssen für den Frieden der Welt arbeiten.“

Das sind Leitsätze, die selbstverständlicher Gemeinbesitz werden sollen. Die Anwendung hinkt dem Wort noch langsam nach. Das Bodenreformgesetz, das 1948 von der Besatzungsmacht inspiriert und gedeckt, alle bisherigen Pächter gegen spottbillige Ablösung zu Eigentümern des Boden machte, hat in seinem Gefolge Enttäuschungen gebracht. Man kann nicht mit einem Federstrich ein viele Jahrhunderte altes Bodenbesitzsystem abschaffen. Vor allem zeigten sich bald die Folgen einer breiten Lücke, die das Gesetz in bezug auf die Waldungen — „die Berge“ sagt das Gesetz — gelassen hatte; die Wälder sind Großgrundbesitz geblieben. „Es fesselt uns immer noch ein kleiner Zentner Feudalismus“, schrieb kürzlich die hiesige Zeitschrift „Chuokeron“ („Zentralrundschau“ Juni-Heft 1953), und der Autor meinte damit, daß zwischen der Regierung, ihren Plänen und guten Absichten und der Verwirklichung noch immer örtliche Behörden, Banken und Waldeigentümer als Bosse eingeschaltet sind. Die Bindungen der alten Ordnung sind gelockert, aber die Neuordnung, die erstrebte demokratische Freiheit, an der jeder Anteil hat, ist, wie der Autor des „Chuokeron“ vorsichtig sagt, „erst unterwegs“.

Tieferreichend als der Umbau der Wirtschaft sind die Einwirkungen der Fremde auf Familie und auf das Verhältnis der Geschlechter. Nach dem früheren Moralkodex bekamen sich Braut und Bräutigam zwei oder drei oder höchstens acht Tage vor der Heirat erstmalig zu Gesicht. MacArthur blätterte die japanische Geschichte eine Seite weiter, legte die alte Ordnung, den Moralkodex zur Seite und die' Jugend verbrannte

jauchzend eleu Kodex. Filme aus dem schwüleren Florida weisen jetzt die Richtung, wie man frei liebt und lebt, wenn überhaupt der Instinkt noch des Anreizes von außen bedarf. Das sexuelle Thema war früher Tabu, wenigstens in der Oeffentlichkeit. Das Weibliche war zu sehr Mittel oder das andere Extrem: Es gab Bräute genug, die bis zur Hochzeit nichts vom Geschlechtsleben wußten. Vor allem fehlte damals — was heute im Zentrum der hier geübten Aufklärung steht — eine sinngemäße rechtliche und soziale Zusammenordnung der Geschlechter. Nachdenkliche japanische Beurteiler verhehlen die Besorgnis nicht, daß aus dem heutigen Freiheitstaumel keine gesunde neue Sozialethik entstehen kann. Man tröstet sich mit der Hoffnung, daß von der Schule und der Arbeit her eine natürliche Besserung kommen wird. Die Schulbücher der neuen Gesellschaftslehre sprechen mit einer anderwärts kaum geübten Deutlichkeit über das Sexuale, die Verirrungen, die Gefahren und über die Sittlichkeit als „Bedingung zur Gesundheit“, Schon ist die Klippe sichtbar, die eine bloße Naturethik nur schwer, wenn überhaupt,'zu umgehen vermag. Mehr als von der Schule verspricht sich der schon zitierte japanische Autor von der Arbeit, d. h. von der gemeinschaftlichen, auf gleicher Rechtsbasis sich vollziehenden Arbeit der beiden Geschlechter Die ungefähre ökonomische Gleichheit nötig( den stolzen Jungmann zu einer gewisser Achtung des Mädchens und gebe anderseit!

dem Mädchen eine neue Selbsteinschätzung; freilich liege eine Gefahr in dem Wissen des Mädchens, es sei nicht mehr an die Autorität des Hausvaters gebunden, es brauche sich sein Leben nicht von seiner Familie vorschreiben zu lassen.

Gefahren dort, Gefahren hier. Aber der Ernst und die Zähigkeit, mit der, im Großen gesehen, der Japaner sich den Notwendigkeiten eines neuen, in diesem Lande angebrochenen Zeitalters gegenüberstellt und sorgfältig den wildbachartig daherströmenden Neuerungen sein gesundes Urteil entgegensetzt, wird dieses Volk davor bewahren, daß es blindlings in einen gewissen Amerikanis-mus verfällt. Bezeichnend war die Ueber-prüfung der Verfassung, die 1952 nach vollzogenem Friedensschluß von Fachleuten innerhalb der Regierung durchgeführt wurde. Von 26 Votanten sprachen sich 17 für eine schrittweise Rückkehr zu dem japanischen Familiensystem aus und 15 der Fachleute verlangten sogar eine neue Stilisierung der Verfassung, die wörtlich den Grundsatz aussprach, „das Fundament unseres Staatslebens ist vor allem der gesunde F a m i 1 i e n s i n n“.

In der Welt werden oft die hohen Aspirationen des kleinen Japaners nachsichtig belächelt. Aber daß dieses Volk in gesundem Empfinden, ohne Revolution und Bankrott, geistig und materiell sich zu einem neuen Glied der Weltfamilie umformt, verdient höchste Achtung. G—.

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