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Den Menschen verändern

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DF.R LIEBE TUN. Etliche christliche Erwägungen ln Form von Reden. Gesammelte Werke. 19. Abteilung. Von Sören Kierkegaard. Übersetzt von Hayo Gerdes. Eugen-Diederichs- Verlag, Düsseldorf-Köln, 1966. 460 Seiten.

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DF.R LIEBE TUN. Etliche christliche Erwägungen ln Form von Reden. Gesammelte Werke. 19. Abteilung. Von Sören Kierkegaard. Übersetzt von Hayo Gerdes. Eugen-Diederichs- Verlag, Düsseldorf-Köln, 1966. 460 Seiten.

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Das Jahr 1813 hatte es in sich: Des 19. Jahrhunderts wesentliche Dramatiker kamen zur Welt — mit Zündstoff auch noch für das zwanzigste — und sein vielleicht auch wesentlichster Philosoph: Kierke gaard. Gleich einer nova leuchtet dieser Stem nun täglich heller und heller, seit er noch vor der Jahrhundertwende sich entzündet hat. Man braucht kein Vergrößerungsmittel um ihn zu sehen. Denn Feuer ist, was Buchstabe scheint, was vor unsern Augen sich in das Papier frißt, ebenso wärmend wie erhellend. Nicht sein Feuerwesen allein erinnert an Nietzsche: Dichter auch er, und auch er aufbauend durch Verneinung; auch seine Vorliebe das Paradoxon. Aber Vorliebe ist zuwenig für „diesen archimedischen Punkt im Denken Kierkegaards“ (Gabriel), dem Denken ohne Paradoxon wie Liebe ohne Leidenschaft erschien. So denkt er als Christ das Christentum als Idee zugrunde,

um es als existentielle Wirklichkeit im einzelnen Christen wieder zum Leben erwecken. Man meint beim Lesen diesen Ing. Kiriillow der Glaubenden einem zurufen zu hören: „Endlich hast du es begriffen, also kann man es doch begreifen Ich fasse es gar nicht, wie bisher ein Christ wissen konnte, daß es einen Gott gibt, ohne sein Leben zu ändern.“ Wie die Extreme sich zu gleichen scheinen, wie nahe doch Dostojewskis Romanfigur des konsequenten Atheisten dem einzigen konsequenten Gläubigen ist! Ist es Zufall, daß nur dieser gelebt hat? Nur für den Glauben kann man sterben, für den Unglauben kann man es offenbar nicht.

Heute erst zeigt es sich, wie recht das Enfant terrible der Kirche hatte, die persönliche christliche Überzeugung des einzelnen gegenüber der sogenannten christlichen Gesellschaft so sehr zu betonen. Glaube durch Nachdenken besteht, wenn auch der durch

Taufscheine vergeht. Doch ist Kierkegaard, der Gewalttätige im Geiste, mit seiner Roßkur des „Alles oder Nichts“ im Grund doch nur für den schöpferischen, also kleineren Teil der Religiösen faßbar und daher aiuch nur für diesen wirklich von Bedeutung, kaum aber für jenen größeren Teil der Unschöpferischen, die, um Religion zu haben, „sich an ein Ganzes anzuschließen“ gezwungen sind und sein werden.

Das Buch handelt nicht von der Liebe, sondern von der Liebe Tun. Denn nur das ist wirklich Liebe, was Liebe tut. Wie der Denkende nur in dem existiert, was er auch handelnd hervorbringt. Das ist eine sehr westliche, um nicht zu sagen, heldische Philosophie. Sie verlangt von dem, der sich zu ihr bekennt, Einsatz des Lebens, duldet kein gemütliches Wasserpredigen und dabei Weintrinken. Sie hält auch nichts von einer östlich-beschaulichen, egoistisch nach innen gerichteten Weisheit: Philosophie des Helden, des Wissen Handlung ist, (bescheidenes Nachbild: der Gentleman), Frucht vom Baum des Idealismus, der Hegels chen Philosophie. Doch sucht sie nicht, wie die Marxsche, die Welt zu verändern, sondern den Menschen. Es geht nicht in erster Linie um Geld und Krankenhäuser, sondern um Barmherzigkeit, die, auch wenn sie jene nicht zu geben vermag, Tun der Liebe ist. Denn Liebe, Barmherzigkeit und das Schöne, Wahre und Gute sind nicht bloße Eigenschaften der Dinge, nicht nur in Beziehungen existent, sondern ein Drittes neben den Bezogenen und unabhängigen von der Benützung durch sie. Dieses alles Dingliche Überschreitende, alles Dingliche Durchdringende ist das Gottesverhältnis.

Die Warnung im Vorwort, nicht leichtsinnig zu lasen, kann man gar nicht in den Wind schlagen. Die Gründlichkeit, mit der hier alles so lange gesagt und wiederholt wird, bis -alles klar geworden, unterhält, wie nur — nach Thomas Mann — eben Gründlichkeit allein unterhalten kann. Durch ein paar herausgerissene Sätze eine Ahnung von dieser Unterhaltsamkeit zu geben, wird vergeblich sein: „Warte nur, wir sprechen uns in der Ewigkeit!“ „O, daß ich die Miene darstellen könnte, welche die Ewigkeit aufsetzen wird!“ Die 15 Reden bauen alle auf Bibelsätzen auf, deren Klischeegestalt verschwindet und die in dringenden Bezügen die göttliche Herkunft von Neuem fühlen lassen. Diese so anspruchsvolle Philosophie, Quelile der Modernen, der Ebner, Sartre, Heidegger, Jaspers, Marcel und vieler anderer, ist dennoch Philosophie des „kleinen Mannes“, der ohne zufällige Begabung, nur einfach das Menschliche tut, sich aber bewußt ist seiner Verantwortlichkeit.

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